Mit einiger Anstrengung gelang es ihr, auf die Beine zu kommen. Lady Matilda stand ebenfalls auf, betont mühevoller, als nötig gewesen wäre.
«Es war im Mai 1940», sagte Charlotte, «als die Hitlerjugend in ihr zweites Stadium eintrat. Als Himmler von Hitler eine Order erhielt. Die Order der berühmten SS. Sie wurde für die Vernichtung der Ostvölker, der Slawen, der vorbestimmten Sklaven der Welt erstellt. Sie sollte Raum schaffen für die deutsche Herrenrasse. Das Ausführungsorgan der SS entstand.»
Ihr Stimme senkte sich etwas. Sie war jetzt von fast religiöser Ehrfurcht.
Lady Matilda hätte sich aus Versehen fast bekreuzigt.
«Der Totenkopforden», sagte die Große Charlotte. Sie ging mühsam und unter Schmerzen den Raum entlang und zeigte auf die Wand, wo im Goldrahmen und einem Schädel darüber die Totenkopforder hing.
«Schau nur. Das ist mein liebster Besitz. Sie hängt hier an meiner Wand. Wenn meine goldene Jungvolkgruppe hierherkommt, salutieren sie hier. Im Schlossarchiv gibt es Bände mit der Chronik des Ordens. Manche sind nur für einen starken Magen verdaulich, aber man muss lernen, diese Dinge zu akzeptieren. Der Tod in den Gaskammern, die Folterkeller – die Nürnberger Prozesse berichten mit Gehässigkeit von diesen Dingen. Aber es war eine grandiose Tradition. Stärke durch Leiden. Sie wurden früh trainiert, die jungen Leute. Sie sollten weder schwanken noch umkehren oder verweichlicht sein. Selbst Lenin erklärt in seiner marxistischen Doktrin ‹Keine Schwäche zeigen!›. Es war eine der ersten Regeln bei der Errichtung des perfekten Staates. Aber wir haben das zu eng gesehen. Wir wollten unseren großen Traum nur für die deutsche Herrenrasse erfüllen. Aber es gibt noch andere Rassen. Auch sie können zur Herrschaft gelangen, durch Leiden und Gewalt und gelenkten Einsatz der Anarchie. Wir müssen alles niederreißen, alle verweichlichten Institutionen, alle erniedrigenden Formen von Religion beseitigen. Es gibt eine Religion der Stärke, die alte Religion der Wikinger. Und wir haben einen Führer, er ist noch jung, gewinnt aber jeden Tag an Stärke und Macht. Was hat ein großer Mann einmal gesagt? ‹Gib mir das Werkzeug und die Tat ist mein.› So ähnlich. Unser Anführer hat das Werkzeug, die Mittel, schon zur Hand. Er wird noch mehr Mittel bekommen. Er wird Flugzeuge, Bomben, chemische Kampfmittel zur Verfügung haben. Er wird die Männer für den Kampf haben, die Transportmittel. Er wird Schiffe haben und Öl. Er wird sozusagen den Geist aus Aladins Wunderlampe haben. Man reibt die Lampe und der Geist erscheint. Es ist alles bereit. Die Produktionsmittel, der Reichtum und unser junger Führer, ein Führer von Geburt und Charakter. Er besitzt all das.»
Sie hustete und keuchte.
«Lass dir helfen.»
Lady Matilda half ihr auf ihren Sitz zurück. Charlotte schnappte etwas nach Luft beim Hinsetzen.
«Es ist traurig, alt zu sein, aber ich halte mich noch lange genug. Lange genug, um noch den Triumph einer Neuen Welt zu erleben, einer neuen Schöpfung. Das ist, was du für deinen Neffen brauchst. Ich werde mich darum kümmern. Macht im eigenen Land, das wünscht er sich doch, oder? Wärest du bereit, den Brückenkopf dort zu unterstützen?»
«Früher hatte ich einigen Einfluss. Aber heute –»
Lady Matilda schüttelte den Kopf. «Das ist alles vorbei.»
«Das kommt wieder, meine Liebe», sagte ihre Freundin. «Es war richtig, zu mir zu kommen. Ich habe einen gewissen Einfluss.»
«Es ist eine große Sache», sagte Lady Matilda. Sie seufzte und murmelte: «Jung-Siegfried.»
«Ich hoffe, Sie haben das Treffen mit Ihrer alten Freundin genossen», sagte Amy, als sie zurück ins Gasthaus fuhren.
«Wenn du nur all den Unsinn gehört hättest, den ich geredet habe, du würdest es nicht glauben», erwiderte Lady Matilda Cleckheaton.
Kapitel 16
Pikeaway spricht
«Die Nachrichten aus Frankreich sind sehr schlecht», sagte Oberst Pikeaway und wischte eine Wolke aus Zigarrenasche von seinem Jackett.
«Ich hörte, wie Winston Churchill das im letzten Krieg sagte. Das war ein Mann, der sich mit klaren und knappen Worten äußern konnte. Das war sehr eindrucksvoll. Nun, das ist lange her, aber ich sage es auch heute. Die Nachrichten aus Frankreich sind sehr schlecht.»
Er hustete, keuchte und bürstete sich noch etwas mehr Asche ab.
«Die Nachrichten aus Italien sind auch sehr schlecht», sagte er. «Aus Russland wären sie wahrscheinlich auch sehr schlecht, nehme ich an, wenn die sie nur herausließen. Dort haben sie auch Probleme. Marschierende Studentenbanden auf der Straße, eingeschlagene Schaufenster, belagerte Botschaften. Die Nachrichten aus Ägypten sind sehr schlecht. Aus Jerusalem, aus Syrien. Das ist alles mehr oder weniger normal, da müssen wir uns nicht besonders aufregen. Die Nachrichten aus Argentinien sind etwas ungewöhnlich, würde ich sagen. Sehr ungewöhnlich. Argentinien, Brasilien und Kuba haben sich zusammengeschlossen. Sie nennen sich die Staatenföderation der Goldenen Jugend oder irgend so etwas. Sie haben auch eine Armee. Gut ausgebildet und gedrillt, bewaffnet, kommandiert. Sie haben Flugzeuge, Bomben, sie haben weiß Gott was. Die meisten scheinen genau zu wissen, was sie damit anfangen sollen, das macht es noch schlimmer. Dann ist da noch die singende Menge. Pop-Songs, alte regionale Volkslieder und alte Schlachtgesänge. Sie marschieren dahin wie die Heilsarmee – das meine ich nicht blasphemisch –, ich beschwere mich nicht über die Heilsarmee. Die hat immer tolle Arbeit geleistet. Und die Mädels sind so niedlich mit ihren Schutenhüten!»
Er fuhr fort:
«Ich höre, dass etwas in der Art auch in den zivilisierten Ländern im Gange ist, angefangen bei uns. Manche kann man ja wohl noch zivilisiert nennen, oder? Einer unserer Politiker hat neulich gesagt, wir seien eine großartige Nation, hauptsächlich, weil wir freizügig sind. Wir hätten Demonstrationen, Dinge würden zerschlagen, wir würden alle verprügeln, wenn wir nichts Besseres zu tun hätten, wir würden unseren Übermut durch Gewaltanwendung loswerden und unsere Sittenreinheit, indem wir uns nahezu aller Kleidungsstücke entledigten. Ich weiß nicht, was er sich dabei gedacht hat – Politiker wissen das meist selbst nicht –, aber sie können es immer als richtig darstellen. Dafür sind sie Politiker.»
Er machte eine Pause und sah den Mann an, mit dem er sprach.
«Besorgniserregend – sehr besorgniserregend», sagte Sir George Packham. «Man kann es kaum glauben –man muss sich Sorgen machen – sind das alle Ihre Neuigkeiten?», fragte er enttäuscht.
«Reicht das etwa nicht? Sie sind schwer zufriedenzustellen. Weltweite Anarchie ist im Anzug – das ist es doch. Noch ein bisschen wacklig – noch nicht voll etabliert, aber sehr nahe dran – wirklich sehr nah.»
«Aber man kann doch sicherlich Maßnahmen gegen all das ergreifen?»
«Nicht so leicht, wie Sie denken. Tränengas hält den Aufruhr für eine Weile in Schach und gibt der Polizei eine Atempause. Und sicherlich haben wir eine Menge biologische Kampfmittel und Atombomben und so weiter aus unserer Trickkiste – was denken Sie denn, was passiert, wenn wir anfangen, die anzuwenden? Ein Massensterben unter all den demonstrierenden Jungs und Mädels, den Hausfrauenzirkeln, den alten Pensionären zu Hause und einem Gutteil unserer hochtrabenden Politiker. Während die uns erzählen, dass wir es noch nie so gut gehabt hätten wie heute. Und Sie und ich noch obendrein – ha, ha!»