«Ich begreife nicht –», sagte Sir George Packham.
«Herr Spiess hat eine Theorie –»
«Es ist keine Theorie», sagte Spiess. «Was ich Ihnen berichte, ist Tatsache. Die Russen haben es verheimlicht, wir haben es verheimlicht. Zahlreiche Beweisstücke und Beweise sind aufgetaucht. Hitler, unser Führer verblieb mit seinem eigenen Einverständnis in dem Asyl an jenem Tag, und der Mann mit der größten Ähnlichkeit mit Hitler reiste mit Martin B. ab. Es war der Leichnam dieses Patienten, den man später im Bunker fand. Ich will es kurz machen. Wir müssen nicht unnötig ins Detail gehen.»
«Wir müssen alle die Wahrheit erfahren», sagte Lazenby.
«Der echte Führer wurde über eine vorher arrangierte Geheimroute nach Argentinien geschmuggelt und hat dort einige Jahre gelebt. Er hatte dort einen Sohn von einem schönen arischen Mädchen aus guter Familie. Einige sagen, sie war ein englisches Mädchen. Hitlers Geisteszustand verschlechterte sich, und er starb geistig umnachtet, glaubte, noch seine Armeen ins Feld zu führen. Das war der einzig mögliche Plan, wie er aus Deutschland hätte entkommen können. Er akzeptierte das.»
«Und Sie glauben, in all den Jahren ist nichts ans Licht gekommen, nichts wurde bekannt?»
«Es gab Gerüchte, es gibt immer Gerüchte. Erinnern Sie sich, eine der russischen Zarentöchter soll dem Massaker an ihrer Familie entkommen sein.»
«Aber das war –» George Packham hielt inne. «Das war falsch – völlig falsch.»
«Eine Gruppe von Leuten wies es als Fälschung nach. Eine andere Gruppe hat es als wahr bezeichnet, beide hatten sie gekannt. Dass Anastasia wirklich Anastasia war, oder dass Anastasia, Großherzogin von Russland, in Wirklichkeit nur ein Bauernmädchen war. Welche Geschichte ist wahr? Alles Gerüchte. Je länger sie kursieren, desto weniger Leute glauben daran, ausgenommen Romantiker, die glauben das weiter. Es wurde oft gemunkelt, Hitler sei am Leben, nicht umgekommen. Es gibt niemand, der mit Sicherheit sagen kann, dass sie seinen Leichnam untersucht haben. Die Russen haben das behauptet. Sie haben aber keine Beweise vorgelegt.»
«Wollen Sie damit wirklich sagen – Dr. Reichhardt, unterstützen Sie diese außerordentliche These?»
«Ach», sagte Dr. Reichhardt. «Ich habe Ihnen meinen Teil berichtet. Es war sicherlich Martin B. der mich im meinem Sanatorium aufgesucht hat. Es war Martin B. der den Führer mitgebracht hat. Es war Martin B. der ihn als Führer behandelt hat, mit der Ehrerbietung, mit der man zum Führer spricht. Was mich betrifft, ich lebte schon mit einigen Hunderten von Führern in meinem Sanatorium zusammen, mit Napoleons, Julius Cäsars. Sie müssen verstehen, dass die Hitlers bei mir im Sanatorium alle ähnlich aussahen. Sie hätten alle, fast alle, Adolf Hitler sein können. Sie hätten sich nie mit solcher Leidenschaft, solcher Heftigkeit für Adolf Hitler halten können, hätten sie nicht zumindest eine gewisse Ähnlichkeit besessen, ergänzt durch Schminke, Verkleidung, fortwährende Schauspielerei und Verkörperung der Rolle. Ich war Adolf Hitler vorher noch nie begegnet. Man sah Bilder von ihm in der Zeitung, man wusste oberflächlich, wie unser großer Genius aussah, aber man kannte nur die Bilder, die er an die Öffentlichkeit ließ. Also kam er, er war der Führer, Martin B. dem man in diesem Punkt am meisten vertrauen konnte, sagte, er sei der Führer. Nein, ich hatte keinen Zweifel. Ich folgte den Befehlen. Hitler wollte den Raum allein betreten, um eine Auswahl – wie soll ich sagen? – seiner Gipsabgüsse zu treffen. Er ging hinein, er kam wieder heraus. Die Kleidung hätte getauscht werden können, ohnehin nicht sehr unterschiedliche Kleidung. Kam er selbst heraus oder einer der selbst ernannten Hitlers? Von Martin B. schnell hinausbugsiert, während der echte Mann zurückblieb und sich daran erfreuen konnte, seine erwählte Rolle zu spielen; der erkannte, dass er auf diese Weise, und nur auf diese Weise, aus dem Lande entkommen konnte, das kurz vor der Kapitulation stand. Er war schon geistesgestört, mental geschädigt von Wut und Ärger, dass die Befehle an seinen Stab, seine Anweisungen für die unmöglichen Dinge, die sie sagen und tun sollten, nicht wie in alten Zeiten sofort ausgeführt wurden. Er nahm schon wahr, dass ihm das Oberkommando entglitt. Aber er hatte ein oder zwei Getreue, die einen Plan für ihn entwickelt hatten, ihn aus dem Land, aus Europa herauszubringen, an einen Ort, wo er auf einem anderen Kontinent seine Nazianhänger um sich sammeln konnte, die Jungen, die so leidenschaftlich an ihn glaubten. Das Hakenkreuz würde dort wieder aufgerichtet. Er spielte seine Rolle. Er genoss es, ohne Frage. Ja, das passte zu einem Mann, dessen Verstand unzweifelhaft schon angeschlagen war. Er würde den anderen schon zeigen, dass er die Rolle Hitlers spielen konnte, besser als sie. Er lachte manchmal in sich hinein, und meine Ärzte, meine Pflegerinnen sahen gelegentlich nach ihm und bemerkten eine leichte Veränderung. Ein Patient, der vielleicht besonders geistesgestört war. Pah, das war nichts Besonderes. Das gab es immer wieder. Bei den Napoleons, den Julius Cäsars, bei allen von ihnen. Als Laie würde man wohl sagen, manchmal hatten sie eben ihre besonders verrückten Tage. Ich kann es nur so beschreiben. Jetzt ist die Reihe an Herrn Spiess.»
«Unglaublich!», sagte der Innenminister.
«Ja, unglaublich», sagte Herr Spiess geduldig. «Aber unglaubliche Dinge geschehen, wissen Sie? In der Geschichte, im alltäglichen Leben, ganz gleich wie unwahrscheinlich sie sind.»
«Und keiner hatte einen Verdacht, keiner hat es gewusst?»
«Es war sehr gut vorbereitet. Es war gut geplant, gut ausgearbeitet. Die Fluchtroute war bereit, die genauen Einzelheiten waren nicht bekannt, aber man kann sie ganz gut rekonstruieren. Als wir die Sache zurückverfolgten und Ermittlungen anstellten, fanden wir heraus, dass einige der Beteiligten, die eine bestimmte Person mit verschiedenen Verkleidungen und Namen von Ort zu Ort weitergaben, nicht so alt geworden sind, wie man hätte erwarten können.»
«Meine Sie für den Fall, dass sie das Geheimnis verraten oder zu viel geredet hätten?»
«Die SS hat dafür gesorgt. Reiche Entlohnung, Lob, Versprechen hoher zukünftiger Positionen und dann – der Tod ist eine sehr viel einfachere Lösung. Die SS war an den Tod gewöhnt. Sie kannten die verschiedenen Methoden, sie wussten, wie man Leichen entsorgt – oh ja, das kann ich Ihnen bestätigen, diese Geschichte wird schon eine ganze Weile untersucht. Die Erkenntnisse haben wir Schritt für Schritt gewonnen, wir haben Nachforschungen angestellt, Dokumente erworben, und die Wahrheit ist ans Licht gekommen. Adolf Hitler hat Südamerika mit Gewissheit erreicht. Es heißt, dass eine Hochzeit stattfand, dass ein Kind geboren wurde. Das Kind erhielt eine Hakenkreuz-Tätowierung an der Ferse. Schon als Baby tätowiert. Ich habe verlässliche Agenten getroffen, denen ich vertrauen kann. Sie haben diesen tätowierten Fuß in Südamerika gesehen. Dieses Kind wurde dort aufgezogen, sorgfältig bewacht, abgeschirmt, vorbereitet – vorbereitet wie etwa der Dalai-Lama für seine große Bestimmung. Denn das war die Idee hinter der fanatischen Jugend, diese Doktrin war größer als die, von denen sie ausgegangen waren. Das war nicht nur eine Wiedererweckung der Nazis, der neuen deutschen Herrenrasse. Das auch, aber es ging darüber hinaus. Die Jugend vieler anderer Nationen, die Herrenrasse der jungen Männer aller Nationen Europas sollte sich vereinigen, in die Ränge der Anarchie eintreten, die alte Welt zerstören, diese materialistische Welt; eine neue große Horde mörderischer, gewalttätiger Bruderschaften sollte etabliert werden. Die zuerst zerstören und dann zur Macht aufsteigen. Und sie hatten jetzt ihren Anführer gefunden. Ein Führer mit dem echten Blut in den Adern, ein Führer, obwohl er keine große Ähnlichkeit zu seinem toten Vater entwickelte. Ein blonder, hellhäutiger, nordischer Knabe, der sein Aussehen wahrscheinlich seiner Mutter verdankt. Ein goldener Knabe. Ein junger Mann, den die ganze Welt akzeptieren konnte. Deutsche und Österreicher zuerst, denn er ist Jung-Siegfried, die Verkörperung ihres Glaubens, ihrer Musik. So wuchs er als Jung-Siegfried auf, der sie dereinst ins Gelobte Land führen würde. Nicht das Gelobte Land der Juden, die sie verabscheuten, nicht dorthin, wo Mose seine Gefolgsleute geführt hatte. Die Juden waren tot und begraben, getötet oder in den Gaskammern ermordet. Es sollte ihr ureigenes Land sein, erworben durch ihren Heldenmut. Die Länder Europas würden mit den südamerikanischen Ländern verbunden. Dort hatten sie bereits ihren Brückenkopf, ihre Anarchisten, ihre Propheten, ihre Guevaras, Castros, die Guerillas, ihre Anhänger. Eine lange, mühsame Ausbildung in Grausamkeit und Folter, Gewalt und Tod und danach, ein glorreiches Leben. Freiheit! Als Regenten dieses Staates der Neuen Welt. Die erwählten Eroberer.»