Sie verließen den Raum. Stafford Nye beobachtete durch die leicht geöffnete Tür, wie sie in den Fahrstuhl stiegen und nach unten fuhren.
Er lächelte kurz, schloss die Tür, sah auf die Uhr an der Wand, setzte sich in einen Sessel und wartete…
Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Tag vor einer Woche, als er und Mary Ann sich am Kennedy Airport getrennt hatten. Sie hatten dagestanden, beide hatten nicht gewusst, was sie sagen sollten. Stafford Nye hatte das Schweigen zuerst gebrochen.
«Glauben Sie, wir werden uns jemals Wiedersehen?»
«Gibt es einen Grund, warum wir uns nicht Wiedersehen sollten?»
«Jeden erdenklichen, meine ich.»
Sie sah ihn an und dann schnell wieder weg.
«Diese Abschiede sind nun einmal notwendig. – Es – es gehört zum Job.»
«Die Arbeit. Für Sie geht es immer um die Arbeit, nicht wahr?»
«So muss es sein.»
«Sie sind ein echter Profi. Ich bin nur ein Amateur. Sie sind eine –» Er brach ab. «Was sind Sie eigentlich? Wer sind Sie? Ich weiß es wirklich nicht, oder?»
«Nein.»
Er sah sie an. Er glaubte, eine gewisse Traurigkeit auf ihrem Gesicht zu erkennen, fast wie Schmerz.
«Also muss ich mich fragen… Sie glauben, ich sollte Ihnen vertrauen, nehme ich an?»
«Nein, das nicht. Das ist eines der Dinge, die ich gelernt habe, die das Leben mich gelehrt hat. Man darf niemandem trauen. Vergessen Sie das nie.»
«Das ist also Ihre Welt. Eine Welt des Misstrauens, der Furcht, der Gefahr.»
«Ich möchte am Leben bleiben. Und ich bin noch am Leben.»
«Ich weiß.»
«Und ich möchte, dass Sie auch am Leben bleiben.»
«Ich habe Ihnen vertraut – in Frankfurt…»
«Sie sind ein Risiko eingegangen.»
«Ein Risiko, das sich gelohnt hat. Das wissen Sie so gut wie ich.»
«Sie meinen, weil –?»
«Weil wir zusammen waren. Und jetzt – da wird mein Flug aufgerufen. Soll diese Gemeinsamkeit, die auf einem Flughafen begonnen hat, nun wieder auf einem Flughafen enden? Wo gehen Sie hin? Was tun Sie dort?»
«Ich tue, was ich tun muss. Ich gehe nach Baltimore, nach Washington, nach Texas. Um zu tun, was man mir aufgetragen hat.»
«Und ich? Mir hat man nichts aufgetragen. Ich soll nach London zurückkehren – um dort was zu tun?»
«Zu warten.»
«Warten? Worauf?»
«Darauf, dass man Kontakt mit Ihnen aufnehmen wird.»
«Und was soll ich dann tun?»
Plötzlich lächelte sie ihn an, mit diesem fröhlichen Lächeln, das er so gut kannte.
«Dann verlassen Sie sich auf Ihre Intuition. Sie wissen schon, wie Sie es anstellen müssen, keiner weiß das besser. Sie werden die Leute sogar mögen, die auf Sie zukommen werden. Es werden gut ausgewählte Leute sein. Es ist wichtig, sehr wichtig, dass wir wissen, wer sie sind.»
«Ich muss jetzt gehen. Leben Sie wohl, Mary Ann.»
«Auf Wiedersehen.»
In der Wohnung in London läutete das Telefon und brachte ihn aus seinen Abschiedsträumen aus der Vergangenheit zurück, in einem außerordentlich passenden Moment, dachte Stafford Nye. «Auf Wiedersehen», murmelte er, während er aufstand und hinüberging, um den Hörer abzunehmen, «hoffentlich.»
Eine Stimme ertönte, die asthmatischen Laute waren unverkennbar.
«Stafford Nye?»
Er gab die vereinbarte Antwort: «Kein Rauch ohne Feuer.»
«Mein Arzt sagt, ich solle das Rauchen aufgeben. Armer Kerl», sagte Oberst Pikeaway, «die Hoffnung sollte er gleich aufgeben. Gibt es irgendetwas Neues?»
«Oh ja. Die dreißig Silberlinge, das heißt – sie wurden mir versprochen.»
«Verdammte Schweine!»
«Ja, ja, bleiben Sie ruhig.»
«Und was haben Sie gesagt?»
«Ich habe ihnen ein Lied vorgespielt. Siegfrieds Hornruf-Motiv. Da habe ich den Rat meiner alten Tante befolgt. Das kam sehr gut an.»
«Das klingt ziemlich verrückt.»
«Kennen Sie ein Lied, das ‹Juanita› heißt? Das muss ich auch lernen, falls ich es brauchen sollte.»
«Wissen Sie, wer Juanita ist?»
«Ich glaube, ja.»
«Hm, ich habe zuletzt in Baltimore davon gehört.»
«Was ist mit Ihrem griechischen Mädchen, Daphne Theodofanous? Wo steckt sie wohl gerade?»
«Sie sitzt bestimmt irgendwo in Europa auf einem Flughafen und wartet auf Sie», sagte Oberst Pikeaway.
«Die meisten Flughäfen in Europa scheinen geschlossen zu sein, weil sie in die Luft gejagt wurden oder sonst wie beschädigt sind. Großer Knall, große Entführung, großer Schabernack.
Zum Spiel heraus, Buben und Mädchen, wer mag
Der Mond, der scheint wie am helllichten Tag,
Vergesst euer Brot und vergesst euern Schlaf,
Erschießt eure Freunde hier draußen ganz brav.»
«Der Kinderkreuzzug à la mode. Nicht dass ich viel darüber wüsste. Ich kenne nur den Kreuzzug, an dem Richard Löwenherz teilgenommen hat. Aber in dieser Hinsicht ist die ganze Geschichte wirklich wie der Kinderkreuzzug. Es beginnt mit Idealismus, mit der Vision, die Christenheit werde die Heilige Stadt von den Heiden befreien, und endet mit Tod, Tod und noch mal Tod. Fast alle Kinder sind umgekommen. Oder wurden in die Sklaverei verkauft. Diese Geschichte hier wird genauso enden, wenn wir nicht Mittel und Wege finden, sie daraus zu befreien…»
Kapitel 20
Der Admiral besucht eine alte Freundin
«Ich dachte schon, hier wären bereits alle tot», schnaubte Admiral Blunt.
Seine Bemerkung war nicht an einen Butler gerichtet, den er wohl gern beim Öffnen dieser Tür gesehen hätte, sondern an eine junge Frau, deren Nachnamen er nicht behalten konnte, deren Vorname aber Amy war.
«Ich habe letzte Woche mindestens viermal angerufen. Sie seien im Ausland, hat man mir jedes Mal gesagt.»
«Wir waren auch im Ausland. Wir sind gerade erst zurückgekommen.»
«Matilda sollte nicht in der Welt herumgondeln. Nicht in ihrem Alter. Sie wird noch an Bluthochdruck sterben oder an Herzversagen oder an irgendwas in diesen modernen Flugzeugen. Die sind doch alle voll mit Sprengstoff von den Arabern oder Israelis oder sonst jemand. Nichts ist mehr sicher heutzutage.»
«Der Arzt hat es ihr verschrieben.»
«Na ja, wir alle wissen, wie die Ärzte sind.»
«Und sie ist wirklich bester Laune zurückgekommen.»
«Wo war sie denn?»
«Oh, sie war zur Kur. In Deutschland oder – ich kann mir nicht merken, ob es in Deutschland oder Österreich war. Dieser neue Kurort… Kennen Sie das Goldene Gasthaus?»
«Ich habe davon gehört. Ist wahnsinnig teuer, oder?»
«Nun, es sollen dort auch bemerkenswerte Erfolge erzielt werden.»
«Vielleicht nur eine neue Methode, sich schneller umzubringen», sagte Admiral Blunt. «Wie hat es Ihnen denn gefallen?»
«Nun, nicht besonders. Die Landschaft war sehr schön, aber –»
Von oben ertönte eine gebieterische Stimme.
«Amy. Amy! Was machst du da? Unterhältst dich die ganze Zeit in der Halle? Bring Admiral Blunt nach oben. Ich warte schon auf ihn.»
«Sie Herumtreiberin», sagte Admiral Blunt lachend, nachdem er seine alte Freundin begrüßt hatte. «Sie werden sich so eines Tages noch umbringen. Denken Sie an meine Worte –»
«Nein, das werde ich nicht tun. Es ist heutzutage überhaupt kein Problem zu verreisen.»
«Auf all diesen Flughäfen herumzurennen. Rampen, Treppen, Busse.»
«Kein Problem. Ich hatte einen Rollstuhl.»