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»Wir wenden uns nicht von der Menschheit ab!«, rief der Rabbi und schüttelte seinen grauen Bart. »Aber wir vergessen nicht, dass uns eine schwere Bürde auferlegt wurde – den anderen Völkern ein Beispiel des Glaubens und der Reinheit zu sein. Und wir nehmen jeden mit offenen Armen auf, der rein sein will. Sogar Sie, wenn Sie es wollen!«

»Das ist nicht wahr!«, hielt Mitrofani triumphierend dagegen, und sein Bart begann ebenfalls zu hüpfen. »Diese verirrten Lämmer da, zum Beispiel, die man ›Findelkinder‹ nennt« und er deutete auf drei Stromer, die in närrische Kittel mit blauem Besatz gekleidet einige Schritte von ihnen entfernt saßen – »haben sich von Christus losgesagt und sind zu Ihrem Glauben übergetreten. Und? Haben Sie sie mit offenen Armen aufgenommen, verehrter Rabbi? Nein, Sie rümpfen die Nase!«

Der Rabbiner schnappte entrüstet nach Luft.

»Die . . . die sollen wir aufnehmen?! Dreimal pfui und noch einmal pfui auf sie und ihren falschen Propheten! Im Buch Moses steht: ›Ist in einem Mann oder Weib ein Wahrsagegeist, so sollen sie des Todes sterben. Steinigen soll man sie, Blutschuld belastet sie.‹ O ja, ich weiß Bescheid. Sie, die christlichen Kleriker, schmieden ein Komplott gegen uns. Sie benutzen diesen Manuila, diesen Jahrmarktsnarren, um unseren Glauben lächerlich zu machen! Das ist eure niederträchtige Popenart!«

Einer aus der Schar der Eleven, ein wenig älter als die anderen, griff den Rabbi ängstlich am Arm und flüsterte ihm auf Jiddisch etwas zu. Pelagia verstand nur ein Wort – »Polizei«. Aber der Rebbe ließ sich nicht einschüchtern.

»Das weiß ich selber, dass er ein Bischof ist, man sieht es ja an dem Kreuz und dem Kamilavkion. Soll er sich doch beschweren. Gehen Sie hin, und sagen Sie der Polizei, Aron Schefarewitsch hat in Ihrer Person die ganze christliche Kirche beleidigt!«

Diese Worte hatten eine überraschende Wirkung auf den Bischof. Anstatt sich noch stärker zu ereifern, wurde er plötzlich ganz still. Wahrscheinlich war ihm eingefallen, dass hinter ihm, dem Erzbischof eines Gouvernements, die ganze Macht des Staates und der herrschenden Kirche stand. Was sollte also dieser Disput?

Und außerdem hatte er bemerkt, dass Pelagia neben ihm stand, und er schämte sich vor ihr.

»Sie sind zu jähzornig, Rabbi, genau wie Ihr jüdischer Gott«, sagte der Bischof nach einem kurzen Schweigen.. »Aus diesem Grund hören nur so wenige auf sein Wort. Unser Apostel Paulus aber hat gesagt: Jedwede Art von Bitterkeit, Grimm und Zorn sei fern von euch samt aller Bosheit.‹«

Und nachdem er also eine letzte Salve auf den Gegner abgegeben hatte, zog er sich würdevoll zurück; doch an seinem allzu graden Rücken und den fest im Kreuz verschränkten Händen erkannte Pelagia, dass Mitrofani ernsthaft erzürnt war – selbstverständlich nicht über den beherzten Rabbi, selbstverständlich, sondern über sich selbst, weil er sich auf ein sinnloses und ungebührliches Wortgefecht eingelassen hatte.

Wenn Seine Eminenz sich in einer solchen Stimmung befand, hieß es, sich tunlichst von ihm fern zu halten, weshalb Schwester Pelagia, die das sehr genau wusste, jetzt nicht an die Seite ihres geistlichen Vaters eilte, sondern lieber noch einen Moment bei den aufgebrachten Juden verweilte; die Armen mussten schließlich beruhigt werden. »Wie heißen Sie?«, fragte sie einen mageren Halbwüchsigen mit gebogener Nase, der dem Bischof immer noch ängstlich hinterhersah.

Der fuhr zusammen und starrte die Nonne genauso erschrocken an wie eben den Bischof. »Schmulik«, antwortete er. »Warum wollen Sie das wissen?«

Was für ein blasses Kerlchen, dachte Pelagia mitfühlend. Er sollte sich besser ernähren und öfter mal draußen an der frischen Luft spielen, aber Stattdessen saß er wahrscheinlich von morgens bis abends über seinem Talmud . . .

»Sagen Sie Ihrem Lehrer, dass er keine Angst haben muss. Bischof Mitrofani wird sich bei niemandem beschweren.«

Schmulik zupfte an seinen Schläfenlocken, die sich um seine Ohren kräuselten, und sagte feierlich:

»Rabbi Schefarewitsch hat vor niemandem Angst, er ist ein großartiger Mensch. Der Chacham-Baschi selbst hat ihn nach Jeruschalajim gerufen, weil er mithelfen soll, die Heilige Stadt stark zu machen gegen die Wankelmütigkeit.«

Pelagia wusste zwar nicht, wer dieser Chacham-Baschi war, aber sie nickte respektvoll.

»Um Jeruschalajim stark zu machen!« Schmulik ließ seine Augen begeistert aufblitzen. »Na? So schätzt man unseren Rabbi! Sein Glaube ist fest und hart wie ein Fels. Wissen Sie, wer er ist? Der neue Schammaj, das ist er!«

Von dem unversöhnlichen Schammaj, dem berühmten Lehrer aus der antiken Sekte der Pharisäer, hatte die Nonne schon gelesen. Doch ein anderer Religionsgelehrter dieser Sekte entsprach mehr ihrem Sinn, nämlich der milder gesonnene Hillel, derselbe, der auf die Frage nach dem Wesen der Göttlichen Gesetze folgendermaßen antwortete: »Was dir selber verhasst ist, deinem Nächsten tu es nicht an – das ist die ganze Lehre, und der Rest ist Kommentar. Geh und studiere.«

Das Deck überzog sich wieder mit zerrupfter Watte, und die traurigen Gestalten der Juden sahen auf einmal ganz verwackelt aus, sie verblassten und verschwammen zu geisterhaften Schemen.

Umso unerwarteter war der Gesang, der plötzlich zu ihnen herüberwehte. Die Sänger, dem Klang der Stimmen nach zu urteilen junge Leute, mussten sich irgendwo unterhalb der Brücke befinden. Einträchtig und harmonisch sangen sie »Dubinuschka«.

Etwa Studenten?

Pelagia bekam Lust, ihnen zuzuhören. Aber während sie durch die weiße Nebelwand darauf zuging, verebbte der Gesang schon wieder. Gerade waren sie so richtig in Fahrt gekommen und schmetterten: »Nur ein Lied hab ich nicht vergessen, das Lied der Arbeitergenossenschaft«, gleich musste das »Uu-uch« kommen – aber es kam nicht. Der Chor verhaspelte sich, der Gesang kam ins Stolpern, und die Einmütigkeit löste sich in einem bunten Durcheinander auf.

Trotzdem setzte die Nonne ihren Weg fort, sie wollte herausfinden, was das wohl für ein fideles Jungvolk sein mochte.

Nein, das waren keine Studenten. Auf den ersten Blick hätte man sie zwar dafür halten können, Gesichter und Kleidung sahen durchaus danach aus, aber aus ihren Gesprächen schloss Pelagia, dass es sich um Auswanderer ins jüdische Palästina handelte.

»Du täuschst dich, Magellan!«, rief eine jugendliche Stimme. »Die arische Zivilisation strebt danach, die Welt zu verschönern, die jüdische hingegen will sie sittlicher machen, darin besteht der wesentliche Unterschied. Beides sind wichtige Ziele, aber sie sind schwer miteinander vereinbar, und deshalb müssen wir unseren Staat weit weg von Europa errichten. Wir werden von ihnen die Schönheit lernen und sie von uns die Moral. Bei uns wird es keine Ausbeutung geben, keine Unterdrückung des weiblichen Geschlechts durch das männliche, und die spießige kleinbürgerliche Familie auch nicht mehr. Wir werden der ganzen Welt ein Beispiel geben!«

Ach, wie interessant, dachte Pelagia und blieb in diskretem Abstand stehen. Das sind bestimmt Zionisten, über die jetzt so viel geschrieben und geredet wird. Was für sympathische junge Leute, und so zart, vor allem die jungen Damen.

Den jungen Mann mit dem Schifferbart, der gerade als Magellan angesprochen worden war, konnte man allerdings schwerlich zart nennen. Er war auch älter als die anderen, wohl um die fünfundzwanzig Jahre. In seinen ruhigen blauen Augen, die den Sprecher jetzt anblickten, lag ein nachsichtiges Lächeln.

»Die Hauptsache ist, dass wir in Palästina nicht verhungern, herumlamentieren oder anfangen, uns gegenseitig die Schädel einzuschlagen«, sagte er gelassen. »Über ethische Ideale können wir später nachdenken.«

Pelagia beugte sich zu einem netten Mädchen in kurzen Kinderhosen (die wohl auf britische Art »Shorts« genannt wurden) und fragte flüsternd: