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Und als ich mich zwischen Wirklichkeit und Fantasie schon vollkommen verloren hatte, sagte ich mir: Aber wäre er ein Einwohner des alten Palästina, der durch irgendein Wunder in das Russland unserer Tage geraten ist, hätte er doch nicht innerhalb von nur drei Jahren die russische Sprache so gut erlernen können. Und da erschrak ich: ER hätte es nicht können sollen? ER, wenn er es denn wäre, hätte doch alles gekonnt, was immer er gewollt hätte!

Als ich dann hörte, dass Immanuel um jeden Preis in der Nacht auf Freitag in einem bestimmten Garten sein wollte, musste ich sofort an jene Donnerstagnacht denken, als der Erlöser verraten wurde und die Häscher ihn im Garten Gethsemane ergriffen.

Dorthin also führte mein Weg.

Und dort fand ich ihn auch, im Garten Gethsemane!

Als ich mich ein wenig gefasst hatte, nahm ich all meinen Mut zusammen, ich unterbrach seine Erzählung über die Löwendressur und fragte geradeheraus:

»Bist du – Jesus Christus ?«

Merkwürdig, nicht wahr, dass man nicht »Sie« sagen kann, so eine stellt? Denn bis zu diesem Augenblick hatte ich Immanuel so angeredet, wie man einen Menschen nach den Regeln der Höflichkeit anredet.

Kaum hatte ich die Frage ausgesprochen, erfasste mich ein Beben in meinem Innersten. Ich erwartete wohl, dass sich sein Gesicht zu einer Grimasse des Wahnsinns verzerren würde, dass ich im nächsten Moment nur das Fieberdelirium eines Kranken erleben würde, in dessen Hirn ein bestimmtes Wort – in diesem Falle der Name des Erlösers – sofort einen akuten Anfall hervorruft.

Ich fasse zusammen, was er mir daraufhin antwortete (noch einmaclass="underline" Ich kann seine Worte nur dem Inhalt nach wiedergeben, weil es mir unmöglich ist, alle Eigentümlichkeiten seiner Sprache nachzumachen).

»Meine Eltern haben mich Immanuel genannt, das bedeutet ›Gott mit uns‹. Meine Scheluchin nannten mich Jehoschua, das heißt auf Russisch ›Jehowa hilf. Das Wort ›Christus‹ habe ich hier bei euch zum ersten Male gehört, und ich bin lange nicht dahinter gekommen, dass damit der Gekreuzigte gemeint ist, zu dem alle beten. Aber als ich dann die russische Schrift gelernt hatte und das Neue Testament las, da traf es mich doch wie ein Schlag. In diesem Buch sind natürlich viele Tatsachen durcheinander gebracht oder unrichtig dargestellt, und es wimmelt darin von Fabeln und Märchen, aber je mehr ich las, desto klarer wurde mir: Das handelt von mir, das bin ja ich, der Gekreuzigte! Ich bin der Gekreuzigte!«

Immer wieder sagte er zornig: »Ich bin de‘ Gek’euzigte, ich bin de’ Gekreuzigte!« Da war ich mir sicher, dass ich einen geistig Verwirrten vor mir hatte. Trotzdem war dieser Mensch mir sympathisch, ich fand ihn immer noch interessant. Ich verspürte den Wunsch, seinen verfinsterten Verstand aus der Dämmerung zurück ins Licht zu führen, und sagte behutsam: »Aber wie kannst du Jesus sein? Wurdest du denn gekreuzigt?«

Aber diese Frage steigerte seine Erregung nur noch mehr.

»Eben nicht! Nicht ich wurde gekreuzigt, ich gerade nicht! Zuerst hab ich das gar nicht begriffen, aber irgendwann wurde mir auf einmal alles klar! Es ist alles ein schrecklicher Irrtum, ein zweitausend Jahre alter Irrtum!«

»Und wer war es dann, der gekreuzigt wurde?«, fragte ich noch sanfter.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht Didymos, oder vielleicht Judas Thaddäus. Die ganze Zeit, seitdem ich begriffen habe, was dort geschehen ist, versuche ich schon herauszufinden, wer von ihnen getötet wurde. Didymos ist mir wie aus dem Gesicht geschnitten, daher hat er auch seinen Namen – Didymos bedeutet ja auf Griechisch ›Zwillingsbruder‹. Aber Judas Thaddäus sieht mir auch ziemlich ähnlich, er ist ja mein Cousin.« (Das Wort klang aus Immanuels Mund etwas seltsam, aber mir fiel ein, dass der Apostel Judas Thaddäus ja tatsächlich ein Cousin Jesu war.) »Didymos könnte es schon gewesen sein, weil er so ein Hitzkopf ist! Und ein Dickschädel. . . Aber er war es nicht. Ich habe furchtbar gelacht, als ich im Evangelium las, wie er seinen Finger in die Löcher von den Nägeln steckte. Das ist typisch Didymos Thomas, das passt zu ihm. Aber dann kann er es nicht gewesen sein, der gekreuzigt wurde. Bestimmt war es Judas Thaddäus, der Neffe meiner Mutter. Oder vielleicht doch Nathanael? Der hat auch blaue Augen. In Jerusalem kannte mich allerdings kaum jemand von Angesicht, also kann sich jeder Einzelne meiner Scheluchin für mich ausgegeben haben. Nein, ich komme nicht darauf, wen sie hingerichtet haben. Aber wer sich das alles ausgedacht hat, das weiß ich ziemlich sicher – das war der andere Judas, der aus Karioth. Er ist nämlich Judäer, die sind schlauer als wir aus Galiläa. Judas, der Sohn von Simon, der hat den Kephas angestiftet, und der hat dann die anderen überzeugt. Auf Kephas haben sie immer gehört. Weißt du, die beiden waren es nämlich, die mich hierher gebracht und eingesperrt haben, Kephas und Judas.«

Er deutete auf die Höhle.

Seine weitere Erzählung gebe ich verkürzt wieder, meine eigenen Fragen, seine Ausrufe und auch meine Gedanken bezüglich der Glaubwürdigkeit der geschilderten Ereignisse werde ich übergehen. Es ist besser, wenn Sie sich darüber selbst Ihre Meinung bilden.

Also, wenn man dem Erzähler glaubt (das heißt dem vagabundierenden Propheten Immanuel-Jehoschua, der vor neunzehn Jahrhunderten in Palästina lebte), so kam er am Vorabend des Passahfestes in die Stadt Jerusalem. In seiner Begleitung waren zwölf Schüler, die sich ihm während seiner Wanderung angeschlossen hatten. Die meisten von ihnen waren Fischer vom See Genezareth, die Übrigen kann man der Kategorie der Miserablen zuordnen – offensichtlich hatte Immanuel schon immer eine Schwäche für die Bettler.

In Jerusalem, wo man bis dahin nie etwas von Immanuel gehört hatte, sprach er wie gewohnt auf der Straße mit den verschiedensten Leuten. Die einen beschimpften ihn, die anderen hörten ihm aufmerksam zu. Schließlich wurde der Ketzer, der sich gegen die Grundlagen des Glaubens verging, bei den Behörden denunziert, und der Prediger musste sich verstecken. In der Nacht auf Freitag versammelten er und seine Schüler sich innerhalb der Stadtmauern im Garten Gethsemane und hielten Rat, was weiter geschehen sollte, und ob es nicht das Beste wäre, aus der Stadt zu fliehen. Aber alle Wege waren überwacht, und die berittenen Soldaten würden die Flüchtigen mit Leichtigkeit ergreifen können.

Da sagte Kephas, der Älteste der Scheluchin: »Lehrer, ganz in der Nähe gibt es einen Ort, wo man sich verstecken kann. Bleibe dort zwei oder drei Tage, bis sie die Suche einstellen.« Kephas und ein weiterer Scheluach, mit Namen Judas, der Sohn von Simon, den Immanuel als »sehr klug und gewitzt« bezeichnete, brachten ihren Anführer auf den Ölbergy zum Grundstück einer armen Witwe. Dort hatte man kürzlich eine uralte Höhle entdeckt, in der man einst die Toten bestattete, bis es in der Gruft keinen Platz mehr gab.

Die Schüler ließen Immanuel einen Leuchter, etwas Wasser und Brot und entfernten sich. Kurz darauf aber reute es ihn (wie konnte er hier in seinem Versteck hocken, während seine Scheluchin sich der Gefahr aussetzten?), und er wollte die Höhle verlassen; da zeigte sich jedoch, dass die Schüler den Eingang mit Steinen versperrt hatten.

Dann ereignete sich eine Art Erdbeben, Immanuel verlor für einen kurzen Moment das Bewusstsein und erwachte von der Stimme eines Mädchens, das immer wieder ein ihm unverständliches Wort rief. »Go-okgock! Go-okgock!« Das war Dummka aus Stroganowka, die ihre Henne suchte.