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»Zuerst dachte ich, ich wäre bei dem Erdbeben umgekommen und befände mich jetzt in der Welt der Toten«, erzählte er weiter. »Denn dort ist alles anders als in der Welt der Lebenden: andere Natur, andere Menschen, andere Sprache, andere Sitten – alles. Ich kam bloß nicht dahinter, ob es nun das Paradies war oder die Hölle. Je nach Jahreszeit schien es mir mal das eine, mal das andere. Zuerst dachte ich – das ist ohne Zweifel das Paradies: so viele Bäume, so viel Wasser, und die Luft so angenehm. Aber manchmal war ich ganz sicher, dass ich in der Hölle gelandet sein musste. Nur in der Hölle kann es so kalt sein, nur dort kann die Erde so weiß und steif sein wie ein Toter. Am Ende kam ich zu dem Schluss, dass ich mich weder in der Hölle noch im Paradies befand, sondern in einer anderen Welt, dort, wo man nach seinem Tode hinkommt und wo man leben soll wie in seiner alten Welt, also Gottgefälliges tun und das Böse in sich überwinden. Danach stirbt man dann noch mal und kommt wieder in eine andere Welt, dann noch mal und noch mal, und immer so weiter, bis die Seele den Weg, der ihr von Gott vorbestimmt ist, ganz bis zum Ende gegangen ist.«

Wie Sie sich erinnern werden, habe ich ja in jener Höhle in Stroganowka etwas ganz Ähnliches erlebt. Auch dort hatte die Erde gebebt, und etwas Seltsames war mit der Zeit geschehen. Wie es in dem alten Traktat geschrieben steht, das ich in Ihrer Bibliothek fand: »Außerdem aber gibt es Höhlen, die Besonderen genannt, in denen der Lauf der Zeit außer Kraft gesetzt ist, und ein Mensch, der dort hineingerät, kann für immer und ewig verloren gehen oder in eine andere Zeit geworfen werden und sogar in eine andere Besondere Höhle.«

Mich interessierten vor allem diese Besonderen Höhlen, in denen die Zeit nicht existiert. Für Immanuel hingegen war dieses übernatürliche Geschehen gar nichts Verwunderliches, und es interessierte ihn auch nicht besonders. »Gott tut viele Wunder«, bemerkte er dazu nebenhin und sprach dann fast die ganze Zeit nur davon, wie ungerecht sein Lieblings-Scheluchin im Evangelium behandelt wird. Dieses Thema beschäftigte ihn weitaus mehr.

»Judas aus Karioth hat mich nicht verraten! Niemand hat mich verraten! Es war eine List (eine Aventüre, sagte Immanuel), die er sich ausgedacht hat, um mich zu retten. Er ist zum Hohepriester gegangen und hat gesagt: ›Ich zeige Euch, wo sich Jehoschua aus Nazareth verborgen hält, gebt mir die versprochene Belohnung.‹ Aber das hat er ja mit Absicht gemacht, damit sie einen anderen kreuzigten und Ruhe gaben. Und mit vollem Bedacht hat er sich anschließend erhängt, damit niemandem Zweifel an seinem Verrat kamen. Oh, du weißt nicht, wie klug er war, mein Judas! Und so edelmütig! Und jetzt verfluchen ihn alle und spucken auf seine Asche! Das ist mir unerträglich!

Als dann die Soldaten kamen, hat Judas auf einen meiner Scheluchin gezeigt, entweder auf Didymos oder auf Judas Thaddäus oder auf irgendeinen anderen, und der hat dann gesagt: »Ja, ich bin Jehoschua aus Nazareth«, und die anderen bestätigten es. Wahrscheinlich war es doch Judas Thaddäus, wir kommen vom Gesicht und von der Statur her beide nach unserem Großvater. Haben sie ihn wirklich gekreuzigt? Weißt du, was das ist, eine Kreuzigung? Das ist die schlimmste Hinrichtungsart, die es gibt. Sogar gepfählt zu werden ist weniger qualvoll. Dort fließt das Leben mit dem Blut aus dir heraus, aber hier versuchst du immerzu, dich auf die Zehenspitzen zu stellen, damit du Luft bekommst, die Sonne sticht dir direkt ins Hirn, und der Henker hält dir an seinem Speer einen feuchten Schwamm hin. Du weißt, du darfst nicht trinken, das verlängert nur deine Qualen, aber deine trockenen Lippen strecken sich ganz von selbst danach aus . . . Und diese Tortur dauert viele, viele Stunden, so lange, bis die Wachen und die Menge genug haben. Dann bricht man dir die Beine, damit du dich nicht mehr abstützen kannst, und dann erstickst du . . .«

Hier begann er zu weinen, und ich musste ihn trösten. Er verrieb sich die Tränen im ganzen Gesicht und sagte immer wieder: »Ich muss zurückkehren, ich muss zu den Meinen gehen. Aber die verdammte Höhle lässt mich nicht! Drei Jahre lang bin ich durch Russland gewandert. Zuerst habe ich gar nicht gewusst, was mit mir geschehen war, und als ich es dann endlich begriffen hatte, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Aber vor kurzem hörte ich plötzlich eine Stimme. Das passiert mir manchmal, ich höre eine STIMME, SEINE Stimme. (Immanuel deutete auf die Decke der Höhle.) Die Stimme sagte zu mir: ›Komm zu dir zurück. Man hat den Falschen gekreuzigt, und deshalb haben die Menschen nichts verstanden. Schlimmer noch – sie haben alles falsch verstanden! Seit fast zweitausend Jahren quälen sie einander ohne Unterlass !‹ Da begriff ich: Ich muss zurückkehren und alles wieder gutmachen.

So ging ich aus Russland fort, ich beeilte mich, um vor dem jüdischen Passahfest hier zu sein. Es gelang mir, die Höhle wieder zu finden. Ich hatte Glück, der Hof war verlassen, niemand wohnte mehr hier. Ich musste sehr lange graben, bis ich den Eingang fand, im Laufe der zweitausend Jahre war er sieben Ellen unter die Erdoberfläche gesunken. In der Nacht auf Freitag stieg ich in die Höhle hinab und blieb dort bis zum Morgen. Aber nichts geschah.

Am darauf folgenden Donnerstag beschloss ich, den ganzen Weg vom Garten Gethsemane an noch einmal Schritt für Schritt abzuschreiten – vielleicht lag es daran. Wieder nichts. Ich versuchte es noch mehrere Male, aber meine Zeit wollte mich nicht zurückholen, ihre Tore blieben mir verschlossen. Da machte ich mich auf das Land meiner Väter zu durchwandern, zu schauen, zu denken und mit den Menschen zu reden.

Und vorgestern fiel es mir plötzlich ein. Damals war doch Vollmond gewesen! Zu meiner Zeit feierte man das Passah fest immer am fünfzehnten Tag des Monats, bei Vollmond. Ich war genau in der Nacht vom vierzehnten auf den fünf zehnten Nissan in der Höhle gewesen.«

Hier besann sich Immanuel plötzlich und rang aufgeregt die Hände: »Ach, Frau, ich habe mich mit dir verplaudert! Was ist mit dem Mond?«

Er stürzte nach draußen – und ich hinter ihm her.

Aber der Mond war schon untergegangen; Immanuel stöhnte vor Verdruss.

»Ich habe ihn verpasst! Jedes Mal dasselbe – immer verplaudere ich mich . . .«

Von weitem hörte man den Schrei eines Hahns. Es war kurz vor Morgengrauen.

Zornig sprach Immanuel weiter: »Und auch Kephas hat man verleumdet. Es kann nicht sein, dass er sich dreimal von mir lossagte, bevor der Hahn krähte. Dass Kephas ins Haus des Hohepriesters ging, das glaube ich. Wahrscheinlich wollte er nachprüfen, ob meine Verfolger die Vertauschung bemerkt hatten. Aber dass er ›ging und bitterlich weinte‹, das glaube ich nicht. Kephas soll geweint haben, als er den Hahnenschrei hörte? Was für ein Unsinn!«

Da fiel es mir endlich wieder ein, und ich fragte: »Wozu ist eigentlich der Hahn da? Nein, nicht der im Evangelium, sondern der andere, der rote? Worin besteht seine Bedeutung?«

Er machte große Augen, woraus ich den Schluss zog, dass er von der magischen Eigenschaft des roten Hahnes gar nichts wusste, und dass mir diese alten Traktate und unsinnigen Hypothesen bloß unnötige Flausen in den Kopf gesetzt hatten. Also wirklich, was sollte das auch mit diesem dummen Gockel?

Aber Immanuel schlug sich plötzlich mit den Händen auf den Schenkel und schrie so laut, dass ein paar Nachtvögel mit den Flügeln schlagend von den Bäumen aufflogen: »Der Hahn! Natürlich! Der Hahn!« Und dann fügte er noch etwas auf Hebräisch oder Aramäisch hinzu.

»Was, was?«, rief ich erschrocken.