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»Antinoi, Eure Eminenz.«

»So nennt man Sie zu Hause, aber auf welchen Namen sind Sie getauft?«

»Antip, Eure Eminenz.«

»Antip, das ist ein schöner, russischer Name«, sagte der Bischof beifällig.

Der Junge berührte sanft mit den Lippen Mitrofanis Hand, und dieser strich ihm gerührt über den Scheitel.

Dann schritt er gemächlich weiter. Pelagia aber blieb zurück – wie flink doch die Mama des frommen Gymnasiasten mit den Nadeln klapperte! Die Nonne strickte selber leidenschaftlich gern und trug stets einen Beutel mit Handarbeiten um den Hals, aber wegen der Ungelehrigkeit ihrer Finger brachte sie ständig die Reihen durcheinander und hatte ihre liebe Not mit den Mustern.

»Wie geschickt Sie die Maschen mit den Nadeln aufnehmen, gnädige Frau, wie machen Sie das nur! ?«, wollte sie gerade fragen, aber plötzlich blinzelte sie verdutzt und rückte ihre Brille zurecht.

Seltsame Hände hatte die Strickkünstlerin: breite Pranken mit borstigen Haaren auf den Fingern.

Pelagia ließ den Blick nach oben wandern, bis zu einem höchst unfraulichen Hals mit vorspringendem Adamsapfel, der über dem Spitzenkragen hervorragte, und schrie vor Überraschung leise auf.

Die merkwürdige Dame blieb stehen, fing den Blick der Nonne auf und zwinkerte ihr zu.

Die übrigen Familienmitglieder waren weitergegangen, sodass die beiden Liebhaberinnen der Strickkunst unter sich waren.

»Sind Sie ein Mann?«, flüsterte Pelagia mit weit auf gerissenen Augen.

Die andere nickte und legte den Zeigefinger auf den Mund: pssst.

»Und die . . . die anderen?«, fragte die Nonne verwirrt und wies mit dem Kopf in Richtung des breitschultrigen Herrn und der beiden entzückenden Kinder.

»Meine Familie.« Die Stimme des Verkleideten klang hoch und ein wenig schrill, sie war von einer Frauenstimme kaum zu unterscheiden. »Mein Mann Lew Iwanowitsch und unsere lieben Kinder Antinoi und Salomea. Wir sind Sodomiten.« Den letzten Satz hatte er in ganz alltäglichem Ton ausgesprochen, als hätte er gesagt »Wir sind aus Odessa« oder »Wir sind Mennoniten«.

»S-sodomiten? Das heißt . . . das heißt Homosexuelle?«, fragte Pelagia, und fast versagte ihr die Stimme bei dem sündigen Wort. »Und was ist mit dem jungen Fräulein? Und . . . und . . . können Sie denn Kinder haben?«

»Salomea ist kein junges Fräulein. Er hat früher in einer Männersauna gearbeitet, Lewuschka hat ihn dort aufgelesen. Oh, er ist so zart, so zart! Und wie er singt! Antinoi, der ist ein ausgelassener Kerl, der hat immerzu Flausen im Kopf und schlägt auch schon mal ein wenig über die Stränge, aber Salomea ist einfach ein Engel. Wir drei lieben Lew Iwanowitsch«, sagte der wunderliche Gesprächspartner mit entrücktem Blick. »Er ist ein richtiger Mann, nicht so wie die anderen. Für einen richtigen Mann ist eine Frau viel zu wenig, deshalb sind für ihn die anderen Männer wie Frauen.«

Pelagia glühte, gleichermaßen vor Scham wie vor Interesse. Sie schaute sich um, um zu sehen, wie weit Mitrofani sich schon entfernt hatte. Dass er bloß nicht erführe, der Arme, wen er da so zärtlich gesegnet hatte.

Der Bischof war noch ganz in der Nähe. Er war bei einer Gruppe von Juden stehen geblieben und schien aufmerksam zu lauschen, was dort geredet wurde. Gut so.

»Und sind Sie schon lange . . . Ich meine, leben Sie schon lange so?«, fragte sie dann neugierig.

»Ich selbst erst seit kurzem, seit sieben Monaten.«

»Und vorher?«

»Da habe ich gelebt wie alle. Ich war Beamter, wissen Sie, Lehrer an einem humanistischen Gymnasium, Latein und Altgriechisch; verheiratet, eine Tochter. Vierzig Jahre bin ich alt geworden und habe nicht gewusst, wer und was ich bin. Das Leben rollte und rollte an mir vorbei wie hinter einem staubigen Zugfenster – bis ich Lew Iwanowitsch begegnete. Da zersprang die Fensterscheibe in tausend Stücke. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie glücklich ich bin! Mir ist, als sei ich von den Toten auferstanden!«

»Aber was ist mit Ihrer Familie? Ich meine, die andere Familie?«

Der Gymnasiallehrer seufzte.

»Was hätte ich dagegen tun können? Es war eben Liebe, ich fühlte mich wie neugeboren. Ich habe ihnen alles überlassen, das ganze Geld auf der Bank, das Haus. Um meine Tochter tut es mir Leid, sie ist so gescheit. Aber es ist besser, wenn sie nicht mit so einem Vater aufwächst. Besser, sie behält mich im Gedächtnis, so wie ich früher war.«

Pelagia warf einen Blick auf die Haube und das Seidenkleid der Neugeborenen und wagte nicht, dieser Feststellung zu widersprechen.

»Wohin reisen Sie jetzt?«

»Nach Sodom«, lautete die Antwort. »Ich sagte Ihnen doch: Wir sind Sodomiten.«

Pelagia verstand wieder einmal gar nichts.

»Was denn für ein Sodom? Sie meinen das, welches der Herrgott zerstört hat, zusammen mit Gomorrha?«

»Es war zerstört, aber es wurde wieder aufgebaut. Mister George Sirus, der amerikanische Millionär und bekannte Philanthrop, hat den Ort, an dem das biblische Sodom einst stand, ausfindig gemacht, und jetzt entsteht dort eine paradiesische Stadt für solche wie uns, wo man uns nicht ächtet oder verfolgt. Und ganz ohne Frauen«, fügte er mit einem schelmischen Lächeln hinzu. »Wer als Frau geboren ist, kann ohnehin nie so eine Frau werden wie ein Mann. Obwohl, ein bisschen was gibt’s bei euch natürlich auch zu sehen.« Der ehemalige Humanist taxierte die Figur der Nonne. »Die Brüste sind nicht das Problem, die kann man aus Watte machen, aber die Schultern und die Hüften . . .«

»Irodiada! Wo bleibst du denn?«, tönte eine kräftige Stimme aus dem Nebel. »Die Kinder wollen zurück in die Kabine!«

»Ich komme, Schatz, ich komme!«, rief Irodiada erschrocken und folgte eilig dem Rufe ihres Liebsten.

Was für sonderbare Geschöpfe gibt es doch auf Gottes Erde, dachte Pelagia und schloss zu Mitrofani auf.

Der Bischof war inzwischen vom passiven Zuhören zur aktiven Tat übergegangen. Mit dräuend erhobener Hand sprach er zu einem graubärtigen Rabbiner, der von einer Schar seiner Eleven umgeben war.

Weshalb der Streit entbrannt war, konnte Pelagia nicht ersehen. Wahrscheinlich hatte der Bischof in seinem üblichen Wissensdrang angefangen, die Juden auszufragen – wohin die Reise gehe, wodurch sie veranlasst sei, ob aus Not oder aus Gründen des Glaubens, oder ob sie sich etwa auf der Flucht vor ungerechter Verfolgung befänden und so weiter und so fort, und dann war er mit seinem jüdischen Konfrater irgendwie aneinander geraten.

». . . und deshalb nämlich jagt man euch überall fort, weil ihr ein Übermaß an Stolz besitzt!«, polterte der Bischof.

Der Alttestamentler antwortete ihm nicht weniger donnernd:

»Ja, wir haben unseren Stolz, das ist wahr! Und der Mensch soll stolz sein, denn er ist die Krone der Schöpfung!«

»Aber ihr seid nicht stolz, sondern hochmütig! Ihr verachtet jeden, der nicht ist wie ihr, ihr habt Angst, euch an anderen Menschen zu beschmutzen, ihr ekelt euch vor ihnen! Ihr braucht euch gar nicht zu wundern, wenn euch niemand liebt!«

»Nicht vor den Menschen ekeln wir uns, sondern vor dem menschlichen Schmutz! Und was die Liebe betrifft, so hat König David gesagt: ›Mit Worten voll Hass umringen sie mich und bekämpfen mich ohne Grund. Für meine Liebe klagen sie mich an; ich aber bete für sie.‹«

Mitrofani, von dem Widerstand aufgestachelt, rief: »Wen liebt ihr denn, außer euresgleichen? Sogar eure Propheten haben nur zu den Hebräern gesprochen, unsere Heiligen aber haben für das Wohl der ganzen Menschheit gelitten!«

Pelagia dachte: Schade, dass der Oberprokuror nicht hört, wie der Bischof sich hier gegen die Andersgläubigen ereifert, er hätte bestimmt seine Freude daran gehabt.

Es war sehr interessant, diesem Disput zuzuhören, aber noch interessanter war es, dabei zuzusehen. Denn bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Religionen waren sich die beiden Opponenten sowohl in puncto Temperament als auch bezüglich ihrer äußeren Erscheinung verblüffend ähnlich.