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Ein außergewöhnlicher Mensch bewährt sich auf jedem Tätigkeitsfeld, und Mitrofani verblieb nicht lange in der Anonymität des weit abgelegenen Klosters. War er früher der jüngste Schwadronskommandeur einer leichten Kavalleriebrigade gewesen, so war er jetzt der jüngste orthodoxe Bischof. Er wurde zuerst als Vikar, dann als Oberpriester des Gouvernements zu uns nach Sawolshsk geschickt, und er legte so viel Weisheit und Eifer an den Tag, dass er alsbald auf einen hohen Kirchenposten in die Hauptstadt berufen wurde. Viele sagten ihm für die nahe Zukunft schon die hohe weiße Metropolitenkappe voraus, doch er verblüffte alle, indem er wieder von der glatt gefahrenen Straße abbog, um Rückkehr in unsere Einöde bat und nach langen Überredungsversuchen, zur Freude der Sawolshsker, in Frieden entlassen wurde, um nie wieder diesen bescheidenen Bischofssessel fern der Hauptstadt zu verlassen.

Aber was heißt schon fern. Es ist ja altbekannt: je ferner der Hauptstadt, desto näher zu Gott. Und die Hauptstadt, die hoch sitzt und weit sieht, sie reicht auch tausend Werst weit, wenn ihr solch ein Einfall in den Sinn kommt.

Und solch ein Einfall war schuld, dass der Bischof diese Nacht nicht schlief, sondern missvergnügt dem zuwideren Crescendo der Zikaden lauschte. Die hauptstädtische Phantasie hatte ein Gesicht und einen Namen: Synodalinspektor Bubenzow. Und Mitrofani, indes er erwog, wie diesem ränkesüchtigen Herrn beizukommen sei, wälzte sich auf dem weichen Bett aus Entendaunen zum hundertsten Mal von einer Seite auf die andere, ächzend, seufzend, auch stöhnend.

Die altertümliche Lagerstatt im bischöflichen Schlafgemach stammte noch aus Elisabeths Zeiten: Vier Säulen trugen einen Baldachin in Form des Sternenhimmels. In der erwähnten Zeit seiner Askese hatte Mitrofani auch auf Stroh und kahlen Brettern vorzüglich geschlafen, bis er zu dem Schluss gelangte, dass die Abtötung des Fleisches dumm und sinnlos sei, nicht dazu habe es der HERR nach SEINEM Bilde geschaffen, auch zieme es dem Bischof nicht, den ihm untergebenen Klerikern selbstquälerische Strenge aufzuzwingen, nach der die Seele das Bedürfnis nicht habe und zu der die Kirchenordnung nicht verpflichte. In seinen reifen Jahren neigte Mitrofani immer mehr zu der Ansicht, dass die wirklichen Prüfungen dem Menschen nicht im physiologischen, sondern im geistigen Bereich auferlegt würden und dass die Kasteiung des Körpers keineswegs immer die Rettung der Seele nach sich ziehe. Darum waren die bischöflichen Gemächer nicht schlechter ausgestattet als das Haus des Gouverneurs, die Tafel irrt Speisezimmer war unvergleichlich erlesener, und der Apfelgarten war der schönste in der ganzen Stadt, mit Lauben, Rotunden und sogar einem Springbrunnen. Friedlich war es da, schattig, inspirierend, und wenn auch die Übelwoller tuschelten – lass sie reden, sie reden über jeden.

Mit dem tückischen Spürhund Bubenzow müsste man es so machen, überlegte der Bischof. Als Erstes nach Petersburg schreiben, an Konstantin Petrowitsch, und ihm die Machenschaften seines bevollmächtigten Nuntius schildern, auch ihm ausmalen, welche Schäden der Kirche dadurch drohten. Der Oberprokuror war ein kluger Mann, vielleicht schenkte er dem Gehör. Aber ein Schreiben allein genügte nicht, man musste die Gouverneursgattin Ljudmila Platonowna zu einem Gespräch bitten, um ihr ins Gewissen zu reden. Sie war eine gutherzige, redliche Frau und würde sich gewiss besinnen.

So käme alles ins Lot. Ganz einfach.

Aber auch nachdem ihm leichter ums Herz geworden war, floh ihn der Schlaf weiterhin, und das lag nicht am Vollmond und nicht an den Zikaden.

Da Mitrofani seine Natur kannte und ihren Mechanismus bis ins Letzte zu ergründen gewohnt war, sann er nun darüber nach, was für ein Wurm an ihm nagte und den Verstand hinderte, sich in die Wolke des Schlafs zu hüllen. Woran lag das?

War es etwa das kürzliche Gespräch mit der wunderlichen Novizin von adligem Stand, der er die Einkleidung als Nonne verweigert hatte? Er hatte nicht drum herumgeredet, sondern ihr ins Gesicht gesagt: »Was Sie brauchen, meine Tochter, ist nicht der Süße Himmelsbräutigam, machen Sie sich nichts vor. Sie brauchen einen ganz gewöhnlichen Bräutigam, einen Beamten oder besser einen Offizier. Mit Schnurrbart.« Das hätte er natürlich nicht sagen sollen. Die Folge waren Hysterie und zermürbend lange Widerworte. Na gut, das war eine Lappalie. Was gab es noch?

Er musste einen unangenehmen Entschluss fassen, der den Vater Wirtschafter des Epiphanienklosters betraf. Der Missetäter war wegen Trunkenheit und wegen unzüchtiger Besuche bei Frauen liederlichen Wandels zur Entlassung aus dem Kloster und zur Rückstufung in den ursprünglichen Rang verurteilt worden. Jetzt war noch der Schreibkram zu erledigen – Briefe an Seine Eminenz den Metropoliten und an den Synod. Aber das war Routine und nicht der Grund für die innere Unruhe.

Mitrofani dachte weiter nach, spielte wie in der Kindheit »heiß« und »kalt« und erkannte plötzlich: Der Brief von seiner Tante, der Generalswitwe Tatistschewa, das war die wunde Stelle. Er wunderte sich, aber das Herz bestätigte sogleich – »heiß«, das war es. Eine Dummheit, so schien es, aber in der Seele war ein Ziehen. Ob er ihn noch einmal las?

Er setzte sich auf, zündete die Kerze an, klemmte den Kneifer auf die Nase. Wo war er, der Brief? Da, auf dem Tischchen.

»Mein lieber Mischenka«, schrieb die alte Marja Tatistschewa, die ihren Neffen nach alter Gewohnheit bei seinem längst vergessenen weltlichen Vornamen nannte, »bist du gesund? Hat dich die verfluchte Gicht losgelassen? Legst du auch immer Kohlblätter auf, wie ich dich geheißen? Mein Apollon Nikolajewitsch selig hat immer gesagt, dass . . .« Es folgte eine ausschweifende Beschreibung der Wunder wirkenden Eigenschaften des Gemüsekohls; der Bischof überflog ungeduldig die gleichmäßigen Zeilen. Seine Augen stießen auf einen unangenehmen Namen. »Wladimir Lwowitsch Bubenzow hat mich wieder besucht. Was wird nicht alles über ihn zusammengelogen: Er wäre ein Gauner oder gar ein Verbrecher. Dabei ist er ein prächtiger junger Mann, und er gefällt mir. Geradezu, ohne Dünkel, und versteht etwas von Hunden. Hast du gewusst, dass er durch die Strjochnins mit mir verwandt ist? Meine Oma Adelaida Sekandrowna war in zweiter Ehe . . .« Nein, das war’s nicht, weiter.

Aha, da: »Aber all das hat mit der Sache nichts zu tun, und ich schreibe es nur, weil ich aus Herzensschwäche zögere, zum Wichtigsten zu kommen. Sowie ich dazu ansetze, fließen die Tränen in zwei Bächlein, meine Hand zittert, und mir wird kalt in der Brust. Mischenka, ich schreibe dir nicht von ungefähr. Ich habe großen Kummer, und nur du wirst mich verstehen, die anderen werden höchstens ein Gelächter anstimmen und sagen, jetzt hat die dumme alte Gans vollends den Verstand verloren. Ich wollte schon selber zu dir kommen, aber die Kraft reicht nicht, obwohl es ja gar nicht weit ist. Ich liege darnieder und weine, weine. Du weißt, wie viele Jahre, wie viel Kraft und wie viel Mittel ich aufgewendet habe, um das Werk zu Ende zu führen, dem Apollon Nikolajewitsch sein Leben geweiht hatte.« (Hier schüttelte der Bischof den Kopf, denn zu dem Werk, dem sein Onkel sein Leben geweiht hatte, verhielt er sich skeptisch.) »So erfahre denn, mein Freund, was für eine Missetat sich auf meinem Gut Drosdowka zugetragen hat. Irgendein Widersacher, einer von meinen Leuten wohl, hat Saguljai und Sakidai Gift ins Futter gestreut. Sakidai ist jünger, den habe ich mit Brechweinstein kuriert, aber Saguljai ist gestorben. Die ganze Nacht hat er gelitten, sich hin und her geworfen, hat Tränen geweint wie ein Mensch und mich kläglich angeguckt, als ob er sagen wollte: Rette mich, Mütterchen, du bist meine ganze Hoffnung. Ich konnte ihn nicht retten. Gegen Morgen hat er jämmerlich aufgeschrien, ist auf die Seite gesunken und hat den Geist aufgegeben. Ich habe das Bewusstsein verloren und habe drei Stunden gelegen, dann kam der Doktor aus der Stadt. Jetzt liege ich im Bett und bin ganz schwach vor Angst. Denn das ist eine Verschwörung, Mischenka, eine bösartige Verschwörung. Jemand will meine Tierchen umbringen und damit auch mich alte Frau. Bei Gott dem Allerhalter flehe ich dich an, komm her. Nicht um mir als Seelenhirt Trost zu spenden, das brauche ich nicht, sondern zum Ermitteln. Alle sagen, du hast die Gabe, jeden Übeltäter zu durchschauen und jede verbrecherische Intrige aufzuklären. Gibt es eine schlimmere Untat als diese? Komm her und rette mich, und ich werde ewig deine Anbeterin sein und in meinem Testament ein reiches Vermächtnis aussetzen, für eine Kirche oder ein Kloster oder auch für die Waisenkinder.« Am Schluss des Briefes wechselte die Tante vom verwandtschaftlichen Ton ins Respektvolle, Offizielle: »Mich Ihrer väterlichen Aufmerksamkeit und Ihren bischöflichen Gebeten empfehlend und Ihren Segen erflehend, verbleibe ich Eurer Bischöflichen Gnaden ergebene Magd Marja Tatistschewa.«