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»Tyson«, murmelte ich. »Du bist ein …«

»Zyklop«, fügte Annabeth hilfsbereit hinzu. »Ein Baby, so wie er aussieht. Vermutlich konnte er deshalb nicht so leicht die Grenze übertreten wie die Stiere. Tyson gehört zu den heimatlosen Waisen.«

»Zu den was?«

»Es gibt sie in fast allen großen Städten«, sagte Annabeth angewidert. »Sie sind … Fehltritte, Percy. Kinder von Naturgeistern und Gottheiten … na ja, meistens von einem Gott … und sie sind nicht immer so, wie sie sein sollten. Niemand will sie haben. Sie werden hin und her gestoßen. Sie wachsen auf der Straße auf. Ich weiß ja nicht, wie dieser dich gefunden hat, aber offenbar mag er dich. Wir sollten ihn zu Chiron bringen, der kann entscheiden, was aus ihm werden soll.«

»Aber das Feuer. Wie …«

»Er ist ein Zyklop.« Annabeth legte eine Pause ein und schien sich an eine unangenehme Tatsache zu erinnern. »Sie arbeiten in den Schmieden der Götter. Sie müssen gegen Feuer immun sein. Das habe ich dir zu erklären versucht.«

Ich war völlig geschockt. Wieso hatte ich nicht bemerkt, was Tyson war?

Aber ich hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Der ganze Hang brannte. Die Verletzten mussten versorgt werden. Und dann waren da noch zwei ramponierte Bronzestiere und ich hatte keine Vorstellung davon, wie wir sie in unsere Wertstofftonnen quetschen sollten.

Clarisse kam zu uns herüber und wischte sich Ruß von der Stirn. »Jackson, wenn das geht, dann steh auf. Wir müssen die Verwundeten ins Hauptgebäude tragen und Tantalus erzählen, was passiert ist.«

»Tantalus?«, fragte ich.

»Der Unterrichtskoordinator«, erklärte Clarisse ungeduldig.

»Das ist doch Chiron. Und wo ist Argus? Der ist doch für die Sicherheit verantwortlich. Warum ist er nicht hier?«

Clarisse schnitt eine Grimasse. »Argus ist gefeuert worden. Ihr beide wart zu lange weg. Hier hat sich einiges geändert.«

»Aber Chiron … er hat doch seit über dreitausend Jahren Leute für den Kampf gegen Ungeheuer trainiert. Er kann einfach nicht weg sein. Was ist passiert?«

»Das ist passiert«, fauchte Clarisse.

Sie zeigte auf Thalias Baum.

Alle im Camp kannten die Geschichte des Baums. Vor sechs Jahren waren Grover, Annabeth und zwei weitere Demigottheiten namens Thalia und Luke vor einer Monsterarmee zum Camp Half-Blood geflohen. Als sie oben auf dem Hügel in die Enge getrieben wurden, hielt Thalia, eine Tochter des Zeus, sie lange genug auf, damit ihre Freunde sich in Sicherheit bringen konnten. Als sie im Sterben lag, erbarmte ihr Vater Zeus sich ihrer und verwandelte sie in eine Fichte. Ihr Geist hatte die magischen Grenzen des Camps gestärkt und es vor Ungeheuern beschützt. Seither stand die Fichte hier und war stark und gesund.

Aber jetzt waren ihre Nadeln gelb und bedeckten rings um den Baum den Boden. Mitten im Stamm, etwas weniger als einen Meter vom Boden entfernt, klaffte eine Wunde von der Größe eines Einschusslochs, aus der eine grünliche Flüssigkeit quoll.

Ein eisiger Schauer lief durch meine Brust. Jetzt wusste ich, warum das Camp in Gefahr war. Die magischen Grenzen wurden schwächer, weil Thalias Baum starb.

Irgendwer hatte ihn vergiftet.

Ich bekomme einen neuen Mitbewohner

Seid ihr jemals nach Hause gekommen und euer Zimmer war das pure Chaos? Als ob irgendeine hilfsbereite Person (huhu, Mom) versucht hätte »aufzuräumen«, und plötzlich könnt ihr nichts mehr finden? Und selbst, wenn nichts fehlt, habt ihr das unheimliche Gefühl, dass irgendwer in eurem privaten Kram geschnüffelt und alles mit Möbelpolitur mit Zitronenduft übersprüht hat?

So ungefähr kam ich mir beim Wiedersehen mit Camp Half-Blood vor.

Auf den ersten Blick waren die Veränderungen nicht so groß. Das Hauptgebäude stand noch immer da, mit dem blauen Giebel und der Veranda, die sich um das ganze Haus zog. Die Erdbeerfelder brutzelten noch immer in der Sonne. Noch immer waren die griechischen Häuser mit ihren weißen Säulen überall im Tal verteilt – das Amphitheater, das Kampffeld, der Speisepavillon, der auf den Long Island Sound hinausging. Und zwischen Wald und Bach standen dieselben Hütten wie immer – eine bunte Ansammlung von zwölf Häusern, von denen jedes einer griechischen Gottheit gewidmet war.

Aber ich spürte die Gefahr. Ich merkte, dass etwas nicht stimmte. Statt in der Sandgrube Volleyball zu spielen, türmten Tutoren und Satyrn im Werkzeugschuppen Waffen aufeinander. Mit Pfeil und Bogen bewaffnete Dryaden redeten nervös am Waldrand aufeinander ein. Der Wald sah kränklich aus, das Gras auf der Wiese war blassgelb und die Feuerspuren auf dem Half-Blood Hill sahen aus wie hässliche Narben.

Irgendwer hatte meinen liebsten Ort auf der ganzen Welt zerstört und ich war … also, ich war nicht gerade ein glücklicher Campbewohner.

Als wir auf das Hauptgebäude zugingen, erkannte ich viele vom letzten Sommer. Niemand blieb stehen, um mit uns zu reden. Niemand sagte: »Schön, dass ihr wieder hier seid.« Einige fuhren zurück, wenn sie Tyson sahen, aber die meisten gingen einfach mit düsterer Miene weiter und widmeten sich ihrer Arbeit – Mitteilungen überbringen, Schwerter an Schleifsteinen wetzen. Das Camp kam mir vor wie eine Militärschule. Und glaubt mir, ich kannte mich aus. Ich war schon von einigen Schulen gefeuert worden.

Tyson war das alles egal. Er war total fasziniert von allem, was er sah.

»’ssndas?«, keuchte er.

»Die Ställe für die Pegasi«, sagte ich. »Die geflügelten Pferde.«

»’ssndas?!«

»Äh … das sind die Toiletten.«

»’ssndas?«

»Die Hütten für die Campbewohner. Wenn niemand weiß, von welcher Gottheit du abstammst, dann wirst du in die Hermes-Hütte gesteckt – die braune dahinten –, bis über dich entschieden worden ist. Wenn sie es dann wissen, kommst du in die Hütte deiner Mom oder deines Dads.«

Er schaute mich ehrfurchtsvoll an. »Du … hast eine Hütte?«

»Nummer 3.« Ich zeigte auf ein längliches Haus aus Strandsteinen.

»Und wohnst mit Freunden in der Hütte?«

»Nein. Nein, ich bin da allein.«

Ich hatte keine Lust, irgendetwas zu erklären.

Die peinliche Wahrheit: Ich war allein in dieser Hütte, weil ich eigentlich gar nicht am Leben sein dürfte. Die »Großen Drei«, die Götter Zeus, Poseidon und Hades, hatten nach dem Zweiten Weltkrieg geschworen, keine Kinder mit sterblichen Frauen mehr zu zeugen. Kinder wie wir waren mächtiger als normale Halbblute; wir waren zu unvorhersagbar. Wenn wir in Wut gerieten, gab es immer wieder Probleme … den Zweiten Weltkrieg zum Beispiel. Das Abkommen der »Großen Drei« war nur zweimal gebrochen worden – als Zeus Thalia und als Poseidon mich gezeugt hatte. Wir hätten beide nicht geboren werden dürfen.

Thalia hatte sich mit zwölf Jahren in eine Fichte verwandeln lassen. Und ich … na ja, ich gab mir alle Mühe, ihrem Beispiel nicht zu folgen. In meinen Albträumen sah ich, in was Poseidon mich verwandeln könnte, wenn ich jemals in Lebensgefahr geriete – in Plankton vielleicht. Oder ein schwimmendes Seetangknäuel.

Als wir das Hauptgebäude erreichten, trafen wir Chiron in seinem Zimmer an. Er hörte seine Lieblingsbarmusik aus den sechziger Jahren und packte seine Satteltaschen.

Vielleicht sollte ich erwähnen … Chiron ist ein Zentaur. Von der Hüfte aufwärts sieht er aus wie ein ganz normaler Mann mittleren Alters mit braunen Locken und einem schütteren Bart. Aber unterhalb der Taille ist er ein weißer Hengst. Er kann glatt als Mensch durchgehen, wenn er seine untere Hälfte in einen magischen Rollstuhl zwängt. Als ich in der siebten Klasse war, hatte er sich sogar als mein Lateinlehrer ausgegeben. Aber meistens, wenn die Zimmerdecken hoch genug sind, tritt er lieber in voller Zentaurengestalt auf.

Tyson sah Chiron an und erstarrte.

»Pony!«, rief er hingerissen.