Выбрать главу

Ich legte Anaklysmos auf meinen Nachttisch und quälte mich aus dem Bett.

Ich zog mich an, so schnell ich konnte. Ich versuchte, nicht an meinen Albtraum oder an Ungeheuer oder an den Schatten vor meinem Fenster zu denken.

Muss es schaffen. Muss sie warnen!

Was hatte Grover damit gemeint?

Ich krümmte drei Finger, hielt sie über mein Herz und schob meine Hand von mir weg – eine uralte Geste, um Übel abzuwehren, die ich von Grover gelernt hatte.

Der Traum konnte einfach nicht Wirklichkeit gewesen sein!

Der letzte Schultag. Meine Mom hatte Recht. Ich hätte vor Begeisterung außer mir sein müssen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein ganzes Schuljahr durchgehalten, ohne von der Schule zu fliegen. Keine seltsamen Unfälle. Keine Kämpfe im Klassenzimmer. Keine Lehrerinnen, die sich in Ungeheuer verwandelten und versuchten, mich mit vergiftetem Mensaessen oder explodierenden Hausaufgaben umzubringen. Am nächsten Morgen würde ich mich auf den Weg zu dem Ort machen, der mir der liebste auf dieser Welt war – ins Camp Half-Blood.

Nur noch einen Tag. Ganz bestimmt würde nicht einmal ich jetzt noch alles vermasseln können.

Wie immer hatte ich keine Ahnung, wie sehr ich mich da irrte.

Meine Mom servierte zum Frühstück blaue Waffeln und blaue Eier. In der Hinsicht ist sie witzig, immer feiert sie besondere Gelegenheiten mit blauem Essen. Ich glaube, auf diese Weise will sie sagen, dass alles möglich ist. Percy kann in die achte Klasse versetzt werden. Waffeln können blau sein. Kleine Wunder sind möglich.

Ich aß am Küchentisch, während meine Mom spülte. Sie trug ihre Arbeitsuniform – einen Rock mit Sternenmuster und eine rot-weiß gestreifte Bluse. Darin verkaufte sie Süßigkeiten bei Sweet on America. Ihre langen braunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Die Waffeln schmeckten großartig, aber ich haute wohl nicht so rein wie sonst. Meine Mom sah mich an und runzelte die Stirn. »Percy, ist alles in Ordnung?«

»Ja … alles bestens.«

Aber sie wusste immer, wenn mir etwas zu schaffen machte.

Sie wischte sich die Hände ab und setzte sich mir gegenüber. »Schule oder …«

Sie brauchte diesen Satz nicht zu beenden. Ich wusste, wonach sie fragen wollte.

»Ich glaube, Grover steckt in Schwierigkeiten.« Ich erzählte ihr von meinem Traum.

Sie schob die Lippen vor. Wir sprachen so gut wie nie über diesen anderen Teil meines Lebens. Wir versuchten, so normal zu leben wie möglich, aber meine Mom wusste alles über Grover.

»Ich würde mir nicht zu große Sorgen machen, Schatz«, sagte sie. »Grover ist jetzt ein großer Satyr. Wenn es ein Problem gäbe, dann hätten wir das doch sicher erfahren, von … vom Camp …«

Ihre Stimme versagte. Ihre Schultern spannten sich, als sie das Wort »Camp« aussprach.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Nichts«, sagte sie. »Ich sag dir was. Heute Nachmittag werden wir das Ende des Schuljahrs feiern. Ich fahr mit dir und Tyson zum Rockefeller Center – zu diesem Skateboardladen, wo ihr so gern hingeht.«

Meine Fresse, das war ganz schön verlockend. Wir hatten immer Probleme mit dem Geld. Meine Mom besuchte Abendkurse und bestand darauf, mich auf eine Privatschule zu schicken, und deshalb konnten wir uns solche tollen Dinge wie einen Skateboardladen nie leisten. Aber etwas in ihrer Stimme ließ mich aufhorchen.

»Moment mal«, sagte ich. »Ich dachte, wir packen nachher meinen Kram fürs Camp.«

Sie zog sich das Spültuch durch die Finger. »Na ja, Schatz, weißt du … ich habe gestern Abend mit Chiron gesprochen.«

Mein Herz wurde schwer. Chiron war der Unterrichtskoordinator in Camp Half-Blood. Er hätte sich niemals bei uns gemeldet, wenn es nicht wirklich böse Probleme gäbe.

»Er meint … es wäre vielleicht im Moment nicht so ganz sicher im Camp. Wir müssten das vielleicht verschieben.«

»Verschieben? Mom, wieso sollte es da nicht sicher sein? Das Camp ist doch der einzige sichere Aufenthaltsort auf der ganzen Welt für mich.«

»Normalerweise ja, Schatz. Aber bei den Problemen, die sie gerade haben …«

»Was denn für Probleme?«

»Percy … es tut mir sehr, sehr leid. Ich wollte eigentlich heute Nachmittag erst mit dir sprechen. Ich kann das jetzt nicht alles erklären. Ich bin noch nicht einmal sicher, ob Chiron das kann. Es kam alles so plötzlich.«

Die Gedanken wirbelten nur so durch meinen Kopf. Wieso sollte ich nicht ins Camp fahren dürfen? Ich wollte eine Million Fragen stellen, doch gerade da schlug die Küchenuhr halb.

Meine Mutter wirkte irgendwie erleichtert. »Halb acht. Du musst los. Tyson wartet bestimmt schon.«

»Aber …«

»Percy, wir reden heute Nachmittag weiter. Jetzt gehst du zur Schule.«

Das war das Letzte, wozu ich Lust hatte, aber meine Mutter hatte diesen verletzlichen Blick – eine Art Warnung; wenn ich sie zu sehr bedrängte, würde sie in Tränen ausbrechen. Außerdem hatte sie Recht, was meinen Freund Tyson anging. Ich musste pünktlich an der U-Bahn-Station sein, sonst regte er sich schrecklich auf. Er hatte Angst, allein mit der U-Bahn zu fahren.

Ich suchte meine Sachen zusammen, blieb aber in der Tür stehen.

»Mom, dieses Problem im Camp – hat das … hat das irgendetwas mit meinem Traum von Grover zu tun?«

Sie mochte mir nicht in die Augen schauen. »Wir reden heute Nachmittag weiter, Schatz. Dann erkläre ich dir … alles, was ich weiß.«

Widerstrebend verabschiedete ich mich von ihr. Dann lief ich die Treppen hinunter, um die U-Bahn nicht zu verpassen.

Damals wusste ich es noch nicht, aber zu diesem nachmittäglichen Gespräch mit meiner Mom würde es niemals kommen.

Eine Sekunde lang sah ich im Sonnenlicht eine dunkle Gestalt – eine menschliche Silhouette vor der Klinkerwand, einen Schatten, der niemandem gehörte.

Dann flackerte der Schatten und war verschwunden.

Ich spiele Völkerball mit Kannibalen

Es schien ein ganz normaler Tag zu werden. So normal, wie das am Meriwether College Prep überhaupt nur möglich ist.

Das Meriwether ist nämlich eine »progressive« Schule mitten in Manhattan, was bedeutet, dass wir auf Sitzsäcken sitzen und nicht an Tischen und dass wir keine Noten kriegen und die Lehrer in Jeans und Rockkonzert-T-Shirts zur Arbeit kommen.

Dagegen hab ich auch gar nichts. Ich meine, ich hab ADHD, ich bin Legastheniker wie die meisten Halbblute, deshalb hatte ich es in normalen Schulen nie weit gebracht, ehe ich gefeuert wurde. Der Nachteil am Meriwether war aber, dass die Lehrer immer das Positive in allem sahen, und die Schüler waren nicht immer … na ja, positiv eben.

Nehmen wir die erste Stunde. Englisch. Die ganze Mittelstufe hatte das Buch »Der Herr der Fliegen« gelesen, wo lauter Jungs auf einer Insel stranden und durchdrehen. Und unsere Abschlussprüfung bestand darin, dass wir eine Stunde auf dem Hof verbringen sollten ohne irgendeine erwachsene Aufsicht und sehen, was dann passierte. Was passierte, war ein wildes Wettkneifen zwischen der siebten und der achten Klasse, dazu zwei Steinwerfereien und ein heftiges Basketballspiel. Der Anführer bei allem war der Obermacker der Schule, Matt Sloan.

Sloan war nicht groß oder stark, aber er verhielt sich so. Er hatte Augen wie ein Pitbull und eine wilde schwarze Mähne und trug immer teure, aber schäbige Klamotten, wie um aller Welt zu zeigen, dass die Kohle seiner Familie ihm ja so was von egal war. Einer seiner Vorderzähne war abgebrochen, seit er einmal mit dem Porsche seines Daddys losgefahren und gegen ein Schild mit der Mahnung »Langsam fahren – Kinder« gebrettert war.

Jedenfalls kniff Sloan erst mal alle, bis er den Fehler machte, das auch bei meinem Freund Tyson zu versuchen.

Ich sollte wohl etwas mehr über Tyson berichten.

Er war der einzige obdachlose Schüler am Meriwether College Prep. Soweit meine Mom und ich es uns zusammengereimt hatten, war er schon in ganz jungen Jahren von seinen Eltern verlassen worden, vermutlich, weil er so … anders war. Er war fast eins neunzig groß und hatte die Statur des Entsetzlichen Schneemenschen, aber er weinte viel und fürchtete sich so ungefähr vor allem, sogar vor seinem eigenen Spiegelbild. Sein Gesicht wirkte missgestaltet und brutal. Ich hatte keine Ahnung, welche Farbe seine Augen hatten, weil ich es niemals über mich brachte, meinen Blick höher wandern zu lassen als bis zu seinen krummen Zähnen. Seine Stimme war tief, aber er sprach merkwürdig, wie ein viel jüngeres Kind – vielleicht, weil er keine Schule besucht hatte, bevor er ans Meriwether kam. Er trug zerfetzte Jeans, verdreckte riesengroße Turnschuhe und ein kariertes Flanellhemd mit Löchern. Er stank wie eine Gasse in New York City, denn da lebte er, in einem Kühlschrankkarton in der Nähe der 72. Straße.