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Das Meriwether Prep hatte ihn als gemeinnützige Tat adoptiert, damit alle Schüler dort sich wie richtig gute Menschen fühlen konnten. Leider konnten die meisten Tyson einfach nicht ausstehen. Wenn sie erst einmal entdeckt hatten, dass er trotz seiner gewaltigen Kraft und seines beängstigenden Aussehens ein riesiges Weichei war, dann fühlten sie sich richtig gut, wenn sie auf ihm herumhacken konnten. Ich war so ungefähr sein einziger Freund und das bedeutete, dass er auch mein einziger Freund war.

Meine Mom hatte sich eine Million Mal bei der Schule beschwert, weil Tyson dort nicht genug geholfen wurde. Sie hatte das Sozialamt eingeschaltet, aber es schien trotzdem nichts zu passieren. Die Sozialarbeiter behaupteten, dass Tyson nicht existierte. Sie schworen Stein und Bein, dass sie die Gasse besucht hatten, die wir ihnen beschrieben hatten, dass sie ihn aber nicht finden könnten. Wie man allerdings ein Riesenbaby in einem Kühlschrankkarton übersehen kann, übersteigt wirklich mein Vorstellungsvermögen.

Wie auch immer, Matt Sloan tauchte hinter Tyson auf und wollte ihn kneifen. Tyson geriet in Panik und schob Sloan ein wenig zu energisch weg. Sloan flog fünf Meter weiter auf den Spielplatz und knallte gegen die Schaukel für die Kleinen.

»Du Missgeburt!«, schrie Sloan. »Scher dich zurück in deinen Pappkarton!«

Tyson brach in Tränen aus. Er ließ sich auf einen Balancierbalken fallen, verbog dabei die Stange und schlug die Hände vors Gesicht.

»Nimm das zurück, Sloan!«, brüllte ich.

Sloan grinste nur hämisch. »Was mischst du dich da eigentlich ein, Jackson? Setz dich nicht immer für diese Missgeburt ein, dann kannst du irgendwann mal Freunde haben!«

Ich ballte die Fäuste. Ich hoffte, dass mein Gesicht nicht so rot war, wie es sich anfühlte. »Er ist keine Missgeburt. Er ist nur …«

Ich suchte die richtigen Worte, aber Sloan hörte gar nicht zu. Er und seine großen, miesen Kumpels waren zu sehr mit Lachen beschäftigt. Ich fragte mich, ob ich mir das einbildete oder ob noch mehr Mistkerle mit Sloan herumhingen als sonst. Ich war daran gewöhnt, ihn mit zwei oder drei anderen Schülern zusammen zu sehen, aber an diesem Tag hatte er noch etwa ein halbes Dutzend mehr dabei, und ich war ziemlich sicher, dass ich die Typen allesamt zum ersten Mal sah.

»Warte nur bis zum Sport, Jackson«, rief Sloan. »Du bist ja so was von tot!«

Nach der ersten Stunde kam unser Englischlehrer Mr de Milo heraus, um sich das Gemetzel anzusehen. Er erklärte, wir hätten »Der Herr der Fliegen« super verstanden. Wir hätten seinen Kurs erfolgreich absolviert und würden nie im Leben zu gewaltbereiten Menschen heranwachsen. Matt Sloan nickte mit ernster Miene, grinste mir zu und ließ dabei seinen angeschlagenen Zahn sehen.

Ich musste Tyson versprechen, dass ich ihm in der Mittagspause ein Extra-Erdnussbutter-Sandwich kaufen würde, damit er mit Weinen aufhörte.

»Ich … ich bin eine Missgeburt?«, fragte er mich.

»Nein«, beteuerte ich zähneknirschend. »Matt Sloan ist eine.«

Tyson schniefte. »Du bist ein guter Freund. Werd dich nächstes Jahr vermissen, wenn … wenn ich nicht …«

Seine Stimme zitterte. Mir ging auf, dass er nicht wusste, ob er auch im nächsten Jahr noch als gemeinnützige Tat die Schule besuchen dürfte. Ich fragte mich, ob der Direktor sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, mit Tyson darüber zu reden.

»Mach dir keine Sorgen, Großer«, sagte ich. »Das kommt schon alles in Ordnung.«

Tyson sah mich dermaßen dankbar an, dass ich mir wie ein Superlügner vorkam. Wie konnte ich einem Jungen wie ihm versprechen, dass irgendetwas in Ordnung kommen würde?

Die nächste Prüfung hatten wir in Chemie. Mrs Tesla ließ uns Chemikalien mischen, bis uns irgendeine Explosion geglückt war. Tyson war mein Laborpartner. Seine Hände waren viel zu groß für die winzigen Phiolen, mit denen wir arbeiten sollten. Aus Versehen stieß er ein Tablett mit Chemikalien vom Tisch und ließ aus dem Mülleimer eine orangefarbene Pilzwolke aufsteigen.

Nachdem Mrs Tesla das Labor evakuiert und das Giftmüllräumkommando bestellt hatte, lobte sie Tyson und mich überschwänglich als die geborenen Chemiker.

Ich freute mich darüber, dass der Morgen schnell verging, denn so brauchte ich nicht zu sehr an meine Probleme zu denken. Ich konnte die Vorstellung, dass im Camp etwas nicht stimmen könnte, einfach nicht ertragen. Und schlimmer noch, ich konnte meinen bösen Traum nicht abschütteln. Ich hatte das entsetzliche Gefühl, dass Grover in Gefahr schwebte …

Während wir in Geografie Karten mit Längen- und Breitengraden zeichneten, öffnete ich mein Notizbuch und schaute das Foto an, das ich darin aufbewahrte – meine Freundin Annabeth im Urlaub in Washington, D.C. Sie trug Jeans und eine Jeansjacke über ihrem orangefarbenen T-Shirt mit dem Aufdruck CAMP HALF-BLOOD. Ihre blonden Haare hatte sie mit einem Tuch zurückgebunden. Sie stand mit verschränkten Armen vor dem Lincoln-Denkmal und schien mit sich überaus zufrieden zu sein, so als ob sie das Ding höchstpersönlich entworfen hätte. Annabeth möchte nämlich später Architektin werden, deshalb besucht sie immer wieder berühmte Denkmäler und so was. In der Hinsicht ist sie schon komisch. Sie hatte mir das Foto nach den Osterferien geschickt und ich sah es mir ab und zu an, um mich daran zu erinnern, dass sie existierte und ich mir Camp Half-Blood nicht einfach nur ausgedacht hatte.

Ich wünschte, Annabeth wäre bei mir. Sie hätte gewusst, was von meinem Traum zu halten war. Ich würde es ihr gegenüber nie zugeben, aber sie war intelligenter als ich, auch wenn sie mir manchmal auf die Nerven ging.

Ich wollte das Notizbuch gerade zuschlagen, als Matt Sloan die Hand ausstreckte und das Foto herausriss.

»He«, protestierte ich.

Sloan starrte das Bild an und machte große Augen. »Nie im Leben, Jackson. Wer ist das denn? Die ist doch nie im Leben deine …«

»Her damit!« Meine Ohren glühten.

Sloan reichte das Foto an seine miesen Kumpels weiter und die kicherten und fingen an, es zu zerpflücken, um daraus Papierkügelchen zu machen. Die neuen Typen mussten Besucher sein, denn alle trugen diese blödsinnigen »Hallo, ich heiße …«-Plaketten, die das Schulsekretariat austeilte. Sie hatten offenbar einen komischen Sinn für Humor, denn sie hatten sich abstruse Namen gegeben wie »Marksauger«, »Schädelfresser« und »Joe Zaster«. Und so hieß ja wohl kein Mensch.

»Die Jungs ziehen nächstes Jahr her«, protzte Sloan, als wollte er mir Angst machen. »Ich wette, die können das Schulgeld bezahlen, anders als dein zurückgebliebener Freund.«

»Er ist nicht zurückgeblieben.« Ich musste mich wirklich sehr beherrschen, um Sloan keine zu scheuern.

»Du bist so ein Versager, Jackson. Gut, dass ich dich im nächsten Jahr von deinem Elend erlösen werde.«

Seine Riesenkumpels benutzten mein Foto als Zahnstocher. Ich hätte sie zu Staub zerreiben mögen, aber Chiron hatte mir streng verboten, meinen Zorn jemals an normalen Sterblichen auszulassen, egal, wie schrecklich die auch sein mochten. Ich musste meine Kampflust für Ungeheuer aufsparen.

Aber trotzdem dachte ein Teil von mir, wenn Sloan nur wüsste, wer ich bin …