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Unentwegt bimmelnd kreuzte die Verbindungsbahn den Platz, eine kleine rauchende und in den engen Kurvenradien ächzende Lokomotive mit einer langen Kette von Güterwaggons. Droschken warteten in langen Reihen auf Kunden, die Pferde müde und stumm, dazu die großen Kremser, die ihre Fahrgäste gegen kleines Geld eng gedrängt aufnahmen. Dazwischen suchten die gelben Pferde-Omnibusse, von Schöneberg kommend, ihren Weg nach dem Molkenmarkt, luden die Passagiere ab, und gleich strömten neue hinein. Und alle, schien es Marie, sahen sie an. Doch völlig anders als auf der Insel. Kalte, unverständliche Blicke trafen sie, und solche von einer ebenso kalten Neugier. Obwohl alles Heldenhafte unserer Zeit sich in Städten zuträgt, ist die Stadt kein Ort für Helden, was am notwendigen Vergessen liegt. Unerträglich wären die unendlich vielen Tode in den übereinander-, nebeneinander-, ineinandergepackten Wohnungen, gäbe es das Vergessen nicht, das in der Stadt so schnell greift wie in der besonders fetten Erde mancher Friedhöfe die Verwesung. Alles ist hier einmal neue Zeit, doch nichts wird überwunden, alles vielmehr zur Seite geschoben, und man selbst spürt nicht einmal, wie der Boden der Zeit sich unter den eigenen Füßen bewegt. Doch plötzlich ist das, was eben noch ein Versprechen auf Zukunft war, in die Vergangenheit gerückt, und etwas Neues scheint unwiderstehlich.

Noch immer standen die beiden Frauen unter den Arkaden des Bahnhofsgebäudes wie am Rand eines aufgewühlten Meers, doch dann nahm Marie allen Mut zusammen und erklärte ihrer Begleiterin, sie werde nun allein weitergehen. Mascha, die ihr auf der Zugfahrt ausgemalt hatte, wie sie gemeinsam unter den Linden flanieren würden, war so überrascht, daß sie nicht fragte, wohin Marie wolle, die, auf dem Weg zu den Droschken, mit einem Schritt in der Menge verschwand.

Der Droschkenkutscher half Marie hinauf, ohne eine Miene zu verziehen. Sie wolle nach der Linienstraße, erklärte sie und nannte die Hausnummer. Das sei dort, nickte er berlinernd, wo sich das Filiale von das Königliche Leihhaus in die Jägerstraße befinde, drückte seinen alten Zylinder mit der zerzausten schwarzweißen preußischen Kokarde wieder ins Gesicht, schwang sich auf den Bock, und schon zog das Pferd an. Marie rutschte tief in das speckigglatte Lederpolster hinein. Das Octogon des Leipziger Platzes weitete und schloß sich wieder, die Leipziger Straße legte ihre schnurgerade Schneise durch die Häuserzeilen, der Wilhelmsplatz mit dem Palais des Prinzen Carl lag plötzlich da wie eine grüne Decke, dann ging es die stille Jägerstraße entlang, in der die Hufe des Pferdes und die eisernen Radreifen auf dem Pflaster klapperten, in die Friedrichstraße hinein und über die Linden hinweg, am Holzmarkt vorüber und über die gußeiserne Weidendammer Brücke immer nach Norden, die Straße nun von Bäumen gesäumt. Marie, in der Hitze des Mittags und über sich den blauen Himmel, sog begierig die Eindrücke der Häuser auf, die vorüberzogen, und sah dabei zu, wie die Stadt sich während der Fahrt veränderte.

In nur einem halben Jahrhundert hatte die Bevölkerung Berlins sich auf weit über vierhunderttausend Einwohner mehr als verdoppelt, und vor allem die Vororte nahmen ständig weitere Zuwanderer auf. Während im Westen immer neue bürgerliche Viertel entstanden, sammelte sich dort, wohin sie jetzt fuhr, im Osten und im Norden der Stadt, die Armut, im Neu-Vogtland, in der Obdachlosenkolonie am Kottbusser Tor und in der qualvollen Enge im Scheunenviertel um die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße, deren Bau erst im letzten Jahr begonnen worden war und wo die Juden sich niederließen, die vor den Pogromen in Rußland und Polen flohen. Hier war der Wohnraum billig, und hier vor dem Oranienburger Tor war auch Platz für die neuen Fabriken.

Feuerland, murmelte der Kutscher, sich nach ihr umsehend und in derselben Bewegung die Zügel anziehend, daß das Pferd hielt. Die Straße schien am Oranienburger Tor zu enden. Jenseits sah Marie Rauch, der zum Himmel stieg, und hörte ein unangenehmes Wummern, das, je näher sie gekommen waren, desto lauter geworden war. Der Kutscher nickte in die Linienstraße hinein. Marie zahlte und stieg aus. Er wendete und fuhr davon. Die Straße breit und staubig und leer am Mittag. Mauersegler stürzten sich kreischend von den heißen Wänden herab. Auf alles war sie gefaßt gewesen, auf das atemlose Hasten der Weltstadt, das Durcheinander der Menschen, aber nicht auf leere Bürgersteige, blanke Fahrdämme, auf Öde und trostloses Mittagslicht. Dieses Wummern, das dumpfe Pochen mächtiger Dampfhämmer, durchdrang alles und schien den Boden selbst zu erschüttern. Der Droschkenkutscher hatte Marie gewarnt. Das sei keine Gegend für eine Dame wie sie. Marie spazierte die paar Schritte zum Tor hinüber, das ein kleiner Obelisk krönte, und spähte durch einen der Bögen hindurch. Feuerland, hatte der Kutscher gesagt.

Feuerland, so nannten die Berliner damals die Gegend nordöstlich des Oranienburger Tors, in der sich in den letzten Jahrzehnten Betriebe angesiedelt hatten, wie es sie noch niemals gegeben hatte, Eisen- und Walzwerke, rauchende Schlote, feurige Essen, die Königlich Preußische Eisengießerei am Ufer der Panke, die berühmte Lokomotivenfabrik von Borsig, die Pflugsche Waggonfabrik, dann Wöhlerts Maschinenbauanstalt. Aus unzähligen Schornsteinen stieg schwarzer Rauch in den Himmel, Abertausende fanden hier ihr Brot, und zu manchen Stunden des Tages wurde die Chausseestraße zum Flußbett eines Stroms von Arbeitern, ohne daß dieses Wort damals schon seinen heutigen Klang gehabt hätte. Ihr Jahrhundert begann erst.

Marie zögerte, ob sie dem Wummern und Hämmern nachgehen sollte, das sie von jenseits des Tors hörte, bog aber dann doch in die Linienstraße ein, die der Koch ihr genannt hatte. Die Linienstraße, die auch heute noch parallel zur Torstraße deren leichtem Bogen folgt und am Oranienburger Tor beginnt, war damals eine Straße der Trödler und Kesselflicker, Hehler, Dirnen und Wucherer, die in kleinen, engen Wohnungen, in Hinterhäusern und Souterrains als Schlafburschen und Chambregarnisten hausten. Ruhr und Scharlach zogen epidemisch von einem der feuchten Keller in den nächsten und die schiefen Stiegen hinauf bis unter die Dächer. Marie, die doch die Tagelöhner kannte, die auf der Insel arbeiteten, waren Menschen wie die, in deren Gesichter sie jetzt sah, noch nie in ihrem Leben begegnet. Als ob es in der Stadt eine andere Art von Schmutz und Armut gäbe. Wie schon am Bahnhof erschreckte sie die Kälte, die aus den Augen herausschaute, und ihre Unsicherheit wuchs, während sie die Nummern Haus für Haus herabzählte, bis sie vor der richtigen Adresse stand.

Im offenen Tordurchgang warteten tiefe Schatten, und Marie mußte sich überwinden hineinzugehen. Mit langsamen Schritten tastete sie sich aus der trockenen Straßenhitze in die kühle Kellerluft vor, die nach feuchtem Putz roch und nach Kohl. Niemand, der ihr hätte Auskunft geben können. An der Wand der Durchfahrt entdeckte sie schließlich den Stillen Portier, einen Holzkasten, in dem hinter einer Glasscheibe die Namen aller Mieter aufgeführt waren, unterteilt in Vorderhaus, Seitenflügel und mehrere Quergebäude, etagenweise geordnet. Ganz oben las Marie seinen Namen.

Nun kam sie sich lächerlich vor. Was tat sie hier? Sie blinzelte zögernd in das kleine Himmelsquadrat, zu dem die hohen Wände mit den unzähligen Fenstern vom ersten Hof hinaufstiegen. Doch schließlich gab sie sich einen Ruck und ging durch all die Torbögen und Höfe, das Buckelpflaster uneben und schadhaft, bis sie im letzten eine Pumpe sah, davor eine alte Frau an ihrem Waschtrog, und an der Brandwand zum Nachbarhaus eine Reihe von Aborten, von deren angefressenen Holztüren die Farbe abblätterte. Die Tür zum IV. Quergebäude so niedrig und klein, daß Marie sie beinahe nicht entdeckt hätte, und als sie sie öffnete, drängte im selben Augenblick ein Sandjunge, auf der Schulter die leere Molle, heraus. Madamken, Madamken, murmelte die abgerissene Gestalt vorwurfsvoll und drückte sich an ihr vorbei.