»Du hast recht«, sagte sie langsam. »Morgen bei Tagesanbruch führe ich ihn hierher.«
»Doch ohne seinen Begleiter!« befahl der Hohepriester.
»Der wird seinen Zögling nicht verlassen.«
Der Greis stieß eine Verwünschung gegen Unis aus.
»Was hat er dir getan?« fragte das Mädchen.
Der andere antwortete nicht. Er trat auf Nefer zu und sprach drohend: »Denk daran, daß dich meine Augen immer verfolgen! Der Jüngling darf nie nach Memphis gelangen, oder er stirbt, sobald er den Fuß in die Hauptstadt setzt. Sein Vater hat regiert, er selbst wird nie regieren! Geh. Alles ist bereit, ihn zu empfangen.«
Als Nefer noch etwas erwidern wollte, schnitt er ihr das Wort ab. »Entweder du gewinnst ihn hier für dich, oder keiner von euch wird lebend diese Insel verlassen.«
Tempelzauber
Nefer fand Mirinri am Fuß des Obelisken wieder. Er war am Ufer geblieben, da er die Absicht hatte, ihr im Notfall zu Hilfe zu eilen.
Als er sie in der Morgendämmerung aus dem Dickicht heraustreten sah, schritt er ihr entgegen.
»Die Insel ist dein, Herr!« sprach sie. »Die Geister der nubischen Könige sind in ihre Särge zurückgekehrt und erscheinen erst dann wieder, wenn ich sie rufe.«
»Hast du sie gesehen?«
»Ja, sie schwebten über den Palmen.«
»Wer bist du, daß du solche Macht hast? Deine Beschwörung tönte bis zu mir! Aber was bedeutete der Lärm?«
»Das waren die Särge, die sich schlossen.«
»Wenn ich deine Zauberkraft hätte, würde mein Vater bald gerächt sein ...«
»Gegen die Lebenden vermag ich nichts«, sagte das Mädchen. Beide gingen an Bord des Seglers zurück und fanden Ata und Unis noch immer bei der Beobachtung der vier gesichteten Schiffe. Nun schien es Ata sicher, daß deren Insassen nicht einfache Handelsleute, sondern Feinde waren.
»Wir sind besorgt, Herr«, sagte er. »Wahrscheinlich sind die Fahrzeuge ebenso zahlreich bemannt wie das unsrige. Aber abzusegeln und dein kostbares Leben in Gefahr zu bringen, wage ich nicht.«
»Wehe, wenn Mirinri in Pepis Hände fällt!« sprach Unis düster. »Man wird nicht wagen, sich dieser Insel zu nähern, die alle fliehen«, beruhigte das Mädchen erneut. Nefer hatte sich nicht in die Kabine begeben, sondern war bei den Männern auf Deck geblieben. Sie hatte sich auf ein Taubündel niedergelassen.
»Warten wir die volle Sonne ab«, meinte der Jüngling, »dann wird schon Rat werden.«
Plötzlich jedoch erschrak er. Das Schiff verließ seinen Standort, als ob es einen kräftigen Stoß in die Flanken erhalten hätte.
Ata und Unis sprangen auf, während die Äthiopier erschrocken zu ihrem Führer eilten. Irgend etwas mußte geschehen sein.
Das Schiff fing an zu schwanken, bewegte sich auf und nieder, bis es sich schließlich stark auf eine Seite legte. Wasser drang ein.
Entsetzt rief Ata: »Wir versinken! Das ist Verrat!«
Sie stürzten aufs Vorderdeck, wo Nefer ruhig, unbeweglich saß. Um ihre Lippen spielte ein Lächeln.
»Auf die Anlegebrücke!« befahl Ata. »Rettet zuerst den Sonnensohn!«
Er hielt die Äthiopier zurück, die sich bereits über die Brücke ans Ufer drängten.
»Nein, das Mädchen zuerst!« rief Mirinri.
Nefers Augen leuchteten auf vor Freude. Sie sprang schnell wie eine Gazelle ans Ufer.
»Eilt! Das Schiff schlägt um!«
Kaum hatten sich alle an Land gerettet, als es geschah. Das Tau, an dem der Anker befestigt war, riß, und die Äthiopier sahen zu ihrem Schrecken den Segler enteilen. Jeder Versuch einer Bergung wäre vergeblich gewesen.
Danach herrschte tiefes Schweigen unter den Männern.
»Jetzt sind wir gefangen«, ergriff Ata als erster wieder das Wort.
»Sollte ein Verräter unter uns sein?« fragte Mirinri. »Unser Segler war stark und konnte nicht ohne Anlaß sinken.«
»Es müßte denn sein, daß die Schiffsleute drüben die nächtliche Dunkelheit benutzt hätten, um das Schiff anzubohren, ohne daß wir es bemerkten!« meinte einer der Äthiopier.
Mirinri seufzte.
»Mein Stern, auf den Unis baute, ist also untergegangen. Wie sollen wir jetzt nach Memphis gelangen?«
»Nicht die Hoffnung verlieren, Herr«, sprach Nefer. »Doch vor allem müssen wir jetzt dich retten! Ich sehe drüben die vier Schiffe auf unsere Insel zufahren.«
Alle riefen: »Sie kommen! Sie kommen!«
»Und keine Wurfspieße zur Verteidigung zu haben!« knirschte Ata wuterfüllt.
»Ich befreie euch.« Nefer sagte es zuversichtlich. »Ich führe euch zum Tempel der nubischen Könige. Die Schiffsmannschaften wagen es nicht, uns dahin zu folgen.«
»Kannst du schwören, daß wir keine Feinde dort finden?«
»Ich schwöre es euch bei Osiris! Folgt mir, ehe die Schiffe landen und die Pfeile der Bogenschützen euch treffen. Seht, sie sind schon nahe!«
»Gib acht, Nefer! Täuschst du uns, so verschonen wir dich nicht, auch wenn du eine Pharaonin bist!« rief Ata mit drohender Stimme.
»Ich könnte mich ja nicht wehren, ich bin in eurer Hand. Folgt mir, wenn euch das Leben lieb ist!«
Alle drangen nun, dem Mädchen folgend, in den dichten Wald, der nur schmalen Durchlaß gewährte.
Es war ein Wirrwarr von Fächerpalmen, deren Krone aus dreißig bis vierzig Blättern bestand und deren zylindrischer Stamm am Fuß knorrig war. Unter dieser grünen Kuppel, die von einem Netz von Schlingpflanzen überwuchert war, wuchs dichtes Gestrüpp, das am Weiterschreiten hinderte.
Mühsam bahnte sich Ata mit seinen Leuten einen Weg durch den Dschungel.
Mit einem Mal standen sie vor einem wunderbaren Tempel, der inmitten einer Lichtung aufragte. Er hatte riesenhafte Dimensionen und war in Würfelform gebaut. Auf ihm thronte ein zweiter, kleinerer Würfel mit einer in der Mitte abgeschnittenen Pyramide. Die Außenwände waren mit Inschriften und Figuren bedeckt, die Gottheiten, prächtig geschmückte Könige auf Kriegswagen, Jagdszenen und Tiere aller Art zeigten. Davor erhob sich eine Allee von Sphinxen, deren Häupter Könige darstellten.
Nefer nahm Mirinri bei der Hand und zog ihn beinahe gewaltsam zu dem Tor des Tempels. »Tritt ein!« sagte sie.
»Begleitet den Sonnensohn«, befahl der mißtrauische Ata seinen Äthiopiern.
»Ihm droht keine Gefahr, ich stehe für sein Leben ein. Aber folgt mir alle!« Ihre sonst so sanfte Stimme klang plötzlich herrisch.
Mirinri trat furchtlos zugleich mit ihr ein.
Das durch die Tür hineinflutende Licht beleuchtete eine Unzahl von Säulen, deren Kapitelle mit roten, schwarzen und blauen Malereien bedeckt waren. Inmitten des großen Saales erhob sich die Statue eines drohenden Herrschers.
»Wohin führst du mich?« fragte Mirinri, als das Mädchen immer weiterschritt.
»In die Mastaba!« erwiderte die Zauberin, ohne seine Hand loszulassen. »Die Grabkammer birgt den Schatz der alten nubischen Könige.«[26]
Sie gingen, von Unis und Ata gefolgt, durch den ganzen Tempel, bis sie an eine halbgeöffnete Tür gelangten. Nefer, wie von plötzlichem Bangen erfaßt, trat einen Schritt zurück. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Dann stieß sie, sich zusammenraffend, mit beiden Händen energisch die schwere Tür auf.
Dahinter befand sich eine Treppe. Wieder nahm die Zauberin Mirinris Hand und führte ihn hinunter. Zuletzt standen sie in einem großen, unterirdischen, in Felsen gehauenen Saal. Dieser hatte eine kreisrunde Öffnung, durch die künstliches Licht drang. Es war die Mastaba.
Nach abermaligem Zögern hatte Nefer die Kapelle durchschritten und war durch einen weiterführenden Gang in die Zella eingetreten, deren Bronzetür ebenfalls offenstand.
»Hier liegen also die Mumien der nubischen Könige?« fragte Mirinri leise.
26
Die je nach dem Vermögen der Verstorbenen größeren oder kleineren Mastabas lagen zumeist in regelrechten Reihen um die Riesenpyramiden herum und wurden durch Alleen voneinander getrennt, wie die einzelnen Stadtteile in den großen Städten Altägyptens. Durch die von den Ägyptologen im vorigen Jahrhundert unternommenen Ausgrabungen sind viele Mastabas freigelegt worden. Die von der Höhe der Cheopspyramide aus sichtbare geometrische Form im Sand läßt auf solche Grabstätten schließen.
Das Innere der Mastabas war in drei Teile geteilt, in die Kapelle, in den »Serdab« genannten Gang und in die Zella, das Gewölbe. Letzteres stellte das eigentliche Grab dar, das die Mumie umschloß. Nur die Kapelle war den Lebenden zugänglich.