Plötzlich erhob sich der Jüngling. »Sage, Unis, ist mein Vater tot? Gestehe es mir!«
»Gestorben im Exil, in der Libyschen Wüste, wohin er sich geflüchtet hatte, um nicht in die Hände der von Pepi gedungenen Meuchelmörder zu fallen. Der König hatte das Todesurteil über den ›Betrüger‹ ausgesprochen.«
»Und was soll nun mit mir geschehen? Was hast du für Absichten?«
»Du sollst ihn rächen und den dir gebührenden Thron zurückerobern!«
»Allein, ohne Mittel, ohne Heer?«
»Nicht allein«, antwortete der Priester. »Freunde deines Vaters erwarten dich in Memphis, um dich als König zu begrüßen. Und was die Mittel angeht: Komm!«
»Wohin?«
»Zu den Gräbern der Quebhu, der letzten Pharaonen aus der ersten Dynastie, deren Totenstätte dein Vater in den ersten Jahren seiner Regierung entdeckt hatte. Aber keinem außer mir hat er das Geheimnis des darin versteckten Schatzes anvertraut. Dort wirst du Reichtümer finden, die genügen werden, Ägypten zu erobern.«
»Wo liegen diese Gräber?«
»Hierselbst. Folge mir!«
Der Alte nahm eine Terrakottalampe und wandte sich dem Innern der Höhle zu, wo sich eine riesige Sphinx aus rosaschimmerndem Marmor erhob.
»Hier ist der geheime Zugang«, sagte Unis. Seine Hand glitt über den Rücken der Statue und berührte eine unsichtbare Mechanik. Sofort sank das Haupt der Sphinx nach hinten und ließ eine Öffnung frei. Modergeruch stieg empor. »Warum hast du mir nie von diesem Höhleneingang gesprochen?«
»Weil ich es deinem Vater feierlich versprochen hatte, dir vor Vollendung deines neunzehnten Jahres nichts zu enthüllen! Komm nur, hier droht uns keine Gefahr. Du wirst erstaunliche Dinge sehen.«
Nachdem sie auf allen vieren durch die Öffnung gelangt waren, befanden sie sich in einem gewölbten Gang, der zu beiden Seiten von einer Unzahl bronzener und steinerner Statuetten flankiert war. Diese stellten Katzen in verschiedenen Stellungen dar. Auch einbalsamierte standen aneinandergereiht auf einem Gesims[10].
Indem Unis die kleine Lampe mit der Hand vor dem eindringenden Luftzug schützte, bog er in einen riesigen Saal ein, dessen Tiefe nicht zu erkennen war. An den Wänden standen roh behauene Kolossalstatuen, männliche und weibliche. Erstere mit großen, bis zu den Schultern herabhängenden Kopfbedeckungen und viereckigen Bärten, letztere mit einem an den Hüften befestigten Rock, der ihre Beine trichterförmig umwickelte. Mirinri, der bisher kaum anderes gesehen hatte als den Nil und Wüstensand, staunte über diese sonderbaren Gestalten, die in steifer Haltung dicht nebeneinander saßen. Unis dagegen beachtete sie nicht, sondern schritt unbeirrt weiter in den Hintergrund des unermeßlichen Raumes, der einst von Tausenden von Arbeitern geschaffen worden war.
Jetzt blieb er vor zwei Figuren stehen, die sich durch einen merkwürdigen Glanz auszeichneten. Eine derselben stellte einen Mann dar, dessen reiches Gewand und auf der Stirn befestigtes Abzeichen auf einen Pharao schließen ließen. Die andere Figur war eine wunderschöne Frau mit schwarzen Augen und gelbgemaltem Gesicht. Das leichte Rot auf den Wangen gab ihr einen weichen, anmutigen Ausdruck. König und Königin waren aber nicht in den Sarg gelegt worden, wie es sonst Brauch war. Man hatte sie nach der Einbalsamierung aufrecht gestellt, indem man sie an einen bronzenen Stab lehnte. Beide waren mit einer dünnen Glasschicht bedeckt. Dieses durchsichtige Glas war von einer solchen Reinheit, daß es bei dem Widerschein der Lampe hell aufblitzte.
»Wer sind diese Mumien?« fragte Mirinri voll Interesse.
»Quebhu, der letzte König der ersten Dynastie, mit seiner Gattin«, antwortete Unis. »Schau her, auf diesem schwarzen Steintäfelchen steht ihr Name. Aber jetzt folge mir weiter.«
Der Saal schien kein Ende zu nehmen. Sie gingen zwischen Steinsarkophagen hindurch, deren Reliefs genau die Formen der in ihrem Innern ruhenden Toten nachahmten. Einige waren vergoldet, andere versilbert. Die Könige trugen einen geflochtenen Bart, der vom Kinn herabhing. Der Kopfschmuck der Königinnen wies gemalte Geierfedern auf. Dicke, mit gelben, grünen und lila Edelsteinen versehene Zöpfe krönten das Haupt.
Nun blieb der Priester vor einer riesigen Sphinx stehen, die einige zwanzig Meter lang und mindestens vier Meter hoch war.
»Hier ist der Schatz des Königs Quebhu versteckt!« erklärte Unis.
Er hob einen schweren, bronzenen Hammer vom Boden auf und schlug damit an einer bestimmten Stelle der Sphinx auf den Kopf. Dieser drehte sich und fiel zurück, so daß eine kreisrunde Öffnung entstand.
»Schau hinein! Siehst du das Gold dort drinnen?« Unis erhob seine Lampe. »Es sollen zwölf Millionen Münzen sein. Und in den Füßen der Sphinx sind Edelsteine verborgen, die weitere Millionen wert sind. Du siehst, daß es genügen würde, ein Heer zu bewaffnen.«
»Woher wußte denn mein Vater, daß dieses Grab einen solchen Schatz birgt?«
»Aus einem alten Papyrus, den er in der Bibliothek der ersten Pharaonen fand.«
»Und keinem hat er dieses Geheimnis anvertraut?«
»Nur mir. Und ich habe es bewahrt, um dir einst den Schatz zu verschaffen. Wir werden jemand beauftragen, einen Teil des Reichtums nach Memphis zu überführen.«
»Wer könnte das sein?«
»Einer der deinem Vater noch immer ergebenen Freunde. Morgen sollen sie benachrichtigt werden, daß die Prophezeiung sich erfüllt hat. Der Komet ist erschienen. Du bist bereit, den Thron deiner Väter zurückzuerobern!«
»Wann werden die Freunde eintreffen?« fragte Mirinri, dessen Aufregung immer noch wuchs.
»Bald – habe Geduld. Sie kommen bei Nacht, wenn du schläfst. Es soll dich noch niemand sehen. Jetzt schwöre, daß du die hohe Aufgabe erfüllen willst, das Land von dem Usurpator zu befreien!«
»Die Beweise, daß ich wirklich ein Pharaonensohn bin, bist du mir noch schuldig geblieben!« rief der Jüngling.
»Gut. Du sollst sie haben. Kehren wir jetzt um; es ist spät, und die Memnonsäule tönt nur bei Sonnenaufgang. Wir müssen uns sofort auf den Weg dorthin machen.«
Pharaonenblut
Bevor Unis und Mirinri den Weg zur Memnonsäule antraten, schlossen sie den Eingang zu ihrer Höhle mit einer Steinplatte, damit kein wildes Tier sich einschleichen konnte. Beide hatten sich mit kurzen Bronzeschwertern bewaffnet.
Die Wüste lag vor ihnen, eine unbebaute, sandige Ebene, in der sich hier und dort Palmen erhoben. In der Ferne heulten Schakale; auch das seltsame Lachen der Hyänen war hörbar.
Weder der Priester noch Mirinri sprachen ein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach. Unis hob von Zeit zu Zeit den Blick zu dem sternenklaren Himmel empor und beobachtete aufmerksam den Kometen.
So waren sie bereits mehrere Meilen gewandert. Manch wildes Tier war pfeilschnell an ihnen vorübergeschossen. Da legte Unis den Arm um die Schultern seines Zöglings und fragte: »An was denkst du, Mirinri?«
Dieser zuckte zusammen, aufgeschreckt aus Träumereien.
»An die Größe und Macht, die dich in Memphis erwarten? An Rache? Nein, weder Ehrgeiz noch Haß erfüllen deine Seele«, sprach der Alte mit Bitterkeit, »denn deine Augen haben noch kein einziges Mal den Stern verfolgt, der dein Schicksal bestimmt!«
Der Jüngling seufzte.
»Du denkst nur an das Mädchen, das du vom Tod errettet hast«, fuhr Unis fort. »Aber ich verstehe nicht, wie sie gerade jetzt, wo du vor einen großen Zukunft stehst, dir Herz und Gedanken einnehmen kann!«
»Möglich, daß ich nicht wie andere Menschen bin«, sagte Mirinri. »Ich habe doch bisher nichts kennengelernt als das Nilufer, als Palmen, Sanddünen und wilde Tiere. Außer deiner Stimme habe ich nur das Plätschern des Wassers und das Rauschen des Windes gehört. Wie konnte ich gefühllos bleiben einem menschlichen Wesen gegenüber, das weder dir noch mir glich und doch dieselbe Sprache hatte? Du hast mich bisher ferngehalten von Orten, die von Menschen bewohnt werden.« »Ich wollte dich in der Einsamkeit zu deiner hohen Aufgabe erziehen. Du solltest die Liebe noch nicht kennenlernen.«
10