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»Wo ist der König?« fragte er gebieterisch die dort wachhabenden Bogenschützen.

»Morgen wirst du ihn sehen«, antwortete man ihm. Danach folgte der Greis den Soldaten durch eine Tür, die in ein unterirdisches Verlies führte.

»Berichte der Prinzessin Nitokris, daß eine Sonnentochter sie zu sprechen wünscht«, befahl Nefer währenddessen einem der Palastwächter.

Man führte sie in einen Saal. Erschöpft ließ sie sich dort nieder, bedeckte das Gesicht mit den Händen und ließ den lange zurückgehaltenen Tränen freien Lauf.

So überhörte sie auch den leichten Schritt, der sich ihr näherte. Die Königstochter stand vor ihr.

»Bist du die Fürstin der Schatteninsel?« fragte sie.

»Ich bin Nefer.«

»Du wurdest Sahur genannt, als wir noch Kinder waren, bis man uns trennte! ... Ich finde dich in Tränen. Warum? Was hast du für ein Anliegen?«

»Du bist mächtig, Prinzessin, beschütze Mirinri vor dem Zorn deines Vaters! Steh ihm bei!«

»Du liebst ihn?«

»Ja.«

»Und er? Liebt er dich?« fragte die Prinzessin schnell.

Nefer schüttelte traurig den Kopf. »Er träumt nur von der Jungfrau, die er im Nil gerettet hat. Für Nefer gibt es kein Glück.«

Da erfaßte die Königstochter tiefes Mitleid mit der Gefährtin. »Arme Sahur.... Wir sind zwei Pharaonentöchter, schließen wir von neuem Freundschaft! Vereinen wir unsere Kräfte, um Mirinri zu retten!«

»Wer weiß, ob ihn nicht schon das Schicksal derer ereilt hat, die ihm helfen wollten, den Thron wiederzugewinnen? Ich sah ihr Blut im Sand vor der Rhodopis-Pyramide.«

»Wehe, wenn die bösen Ratgeber meines Vaters gesiegt hätten!« rief Nitokris verzweifelt. »Ich suche ihn sofort auf!«

Und damit war sie zum Festsaal geeilt, wo der Herrscher sich im Gespräch mit dem Oberpriester befand.

Tetis Triumph

Etwas oberhalb von Memphis, auf der Westseite des Nils, lag das berühmte, von König Amenemhat III[33]. angelegte Becken, das die überschüssigen Wasser des Nils aufnehmen und die umliegenden Ländereien damit versehen sollte. Jetzt war das Reservoir noch leer, da der Fluß sein größtes Hochwasser noch nicht erreicht hatte.

Am Ufer des Beckens erhob sich der größte Palast der Welt, das »Labyrinth«, das dreitausend Zimmer über der Erde und ebensoviele unter der Erde enthielt. War der See angefüllt, so spiegelte sich die weiße Kalksteinfassade des Bauwerks wie Marmor im Wasser wider. In der Mitte des Beckens befanden sich auf einer kleinen Insel die Kolossalstatuen von König Amenemhat und seiner Gemahlin. Stolz erhoben sie sich, als ob sie sagen wollten, wenn die Fluten ihre Füße umringten: »Seht, wir sind die Bezwinger des Hochwassers gewesen!«

Einen Tag nach der Verhaftung des unglücklichen Unis waren hier Tausende und Abertausende versammelt. Sie hatten auf den Deichen, die das Becken wie ein Amphitheater umgaben, Aufstellung genommen; man erwartete ein spannendes Schauspiel, zu dem zahlreiche Herolde durch Trompetenstöße in den Straßen der Stadt am Morgen geladen hatten. Obwohl man noch nicht wußte, um was es sich handelte, war die Menge dem Ruf gefolgt. Die Nachricht, daß König Pepi mit seinem Hofstaat teilnehmen werde, hatte genügt, um sie anzulocken.

Der Pharao traf pünktlich mit seinem Gefolge ein. Es bestand aus Großwürdenträgern, Kammerherren, Priestern, Leibwächtern und Tänzerinnen, die ihre Instrumente laut ertönen ließen. Außerdem begleitete ein Heer von jungen Sklaven, die lange Straußenfederfächer auf Stangen und verschiedene religiöse Symbole trugen, den Zug.

Erwartungsvolles Schweigen herrschte ringsum. Man hörte nur das ewig gleiche Rauschen des hinter den Deichen entlanglaufenden Wassers.

Da ertönte ein langgedehnter Trompetenstoß, gefolgt von den ersten Klängen der das Schauspiel einleitenden Musik. Eine Anzahl Wächter trat aus dem Tor des Labyrinths und wandte sich zu dem westlichen Deich. Hier stiegen sie gemessenen Schrittes die Stufen zum Becken hinunter. In ihrer Mitte ging ein kräftiger, hochgewachsener Greis. Er war nur mit einer kurzen, die Hüften eng umschließenden Kalasiris bekleidet und trug Schild und Schwert.

Es war Unis.

Er schritt ruhig, mit erhobenem Haupt, obwohl er des Königs entsetzlichen Befehl kannte, daß er mit einem Löwen seine Kräfte messen sollte.

Als er bei den gigantischen Königsstatuen angelangt war, ließen ihn die Wächter allein – und schon sprang fast im selben Augenblick mit großem Satz aus einem der unterirdischen Kanäle ein mächtiger Löwe mit fast schwarzer Mähne hinaus ins Freie.

Die Zuschauer drängten sich vor, um ihn zu sehen. Ein dumpfes Raunen, das dem Rollen eines Seebebens glich, ging durch die tausendköpfige Menge.

Unis erwartete unerschrocken, mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen, den Angriff. Er stand unbeweglich, mit ausgestrecktem Schwert, den Körper vorgebeugt.

Als die ausgehungerte Bestie das Getöse ringsum vernahm, hielt sie inne und ließ ein lang anhaltendes Gebrüll ertönen, das wie schwerer Donner zwischen den Dämmen widerhallte. Dann machte sie beim Anblick ihrer Beute einen erneuten Satz.

Doch was war das?

Anstatt auf die Kampfesgegner blickte das Volk zum Himmel. Ein Schrecken bemächtigte sich aller: Es war mit einem Mal dunkel geworden. Die Deiche und das vorher noch alabasterweiße Labyrinth hatten unvermittelt einen grauen Schein angenommen. Grünliche Dünste waren statt der Sonne am Horizont sichtbar.

Die ganze Natur schien plötzlich im Erlöschen. Wie von unsichtbaren Pfeilen getroffen, fielen die Reiher und Ibisse, die zuvor in großer Zahl über dem Becken kreisten, zur Erde nieder. Unheimlich brüllten in der Ferne die zur Niltränke geführten Kühe, klägliches Hundegeheul erscholl. War eine Katastrophe über Ägypten hereingebrochen? Die Finsternis hatte sich mit unglaublicher Schnelligkeit verbreitet. Unbemerkt von der Menge, war die Sonne hinter einem riesengroßen schwarzen Fleck verschwunden.

Die Gesichter der Zuschauer waren jetzt leichenfarbig; viele waren aufgesprungen. Auch König Pepi hatte sich erhoben. Er sah stieren Auges zum Firmament empor, nicht begreifend, daß das Phänomen nichts anderes als eine Sonnenfinsternis bedeutete.

Der Löwe ruhte indessen mit geschlossenen Augen, als ob er seine instinktive Wildheit verloren hätte. Sein Gegner nutzte diesen Augenblick. Mit erstaunlicher Behendigkeit stürzte er sich auf die am Boden liegende Bestie – und durchbohrte sie mit seinem Schwert.

Das furchtbare Geheul, das nun aus dem weit geöffneten Rachen des Raubtiers kam, weckte die Menge aus ihrer Erstarrung. Sie wandte die Augen wieder zur Mitte des Beckens und erblickte im ungewissen Dämmerlicht den Greis, der, das blutige Schwert in der Hand, seinen Fuß auf den sterbenden Löwen setzte.

»Schaut her!« rief Unis mit Donnerstimme. »Ra hat sich verhüllt, um nicht einem Brudermord beiwohnen zu müssen. Kennt ihr den Chaldäerbesieger Teti noch, jenen Teti, den ihr einst den Großen genannt habt? Man ließ euch glauben, daß er tot sei, aber der dort auf dem Thronsitz in der königlichen Loge, der meinen Blick nicht ertragen kann, hat euch belogen! Seht, euer König lebt noch und ist nach Memphis zurückgekehrt! Ra hat euch in seinem Zeichen meine göttliche Herkunft gezeigt; im Besiegen des Löwen habt ihr zugleich den alten Krieger erkannt, der die asiatischen Horden verjagte. Schaut mich genau an, und wenn ihr mich wiedererkennt, so helft mir zur Wiedererlangung meines Thrones! Helft mir, meinem Bruder die Uräusschlange zu entreißen und sie meinem Sohn zu übergeben, den ich seit achtzehn Jahren in der Wüste verborgen hielt!«

Minutenlanges Schweigen herrschte nach dieser Ansprache.

Endlich ging ein Murmeln durch die Reihen. Vereinzelte Stimmen von alten Getreuen erhoben sich jetzt: »Ja, es ist Teti!«

»Hat nicht der König gestern Hand an Tetis Parteigänger gelegt?«

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33

Amenemhat III. Ägyptischer König der 12. Dynastie; er regierte 1844-1797 v.Chr.