Sie stand hochaufgerichtet wie eine Bronzestatue mit zum Himmel erhobenen Händen. Ihre Augen flammten vor Zorn.
Ihre Rede schien Eindruck auf die Männer gemacht zu haben, denn sie ließen stumm ihre Waffen sinken. Aller Blicke waren auf den Jüngling gerichtet.
Mirinri und Unis hatten verwundert ihren Worten gelauscht. Ata aber wollte sich wuterfüllt auf Nefer stürzen. »Du hast uns verraten, Elende!« rief er grimmig.
Mirinri fiel ihm in den Arm. »Warum willst du das Mädchen töten, das mich soeben gerettet hat? Siehst du nicht, wie die Menge zurückweicht?«
Und in der Tat, die Rotte entfernte sich. Der Fluch der Seherin hatte ihre erhitzten Köpfe nüchtern gemacht. Keiner wagte es, gegen einen Auserlesenen zu kämpfen. Ihr Rückzug glich einer Flucht.
»Was für eine geheimnisvolle Kraft muß von diesem jungen Weib ausgehen!« sagte Mirinri voll Erstaunen.
»Du irrst, Herr, wenn du sie in Schutz nimmst. Ich bleibe dabei, sie hat uns verraten! Ich rate dir dringend, sie aus dem Weg zu schaffen. Der Nil ist tief ...«
»Nein, sie bleibt leben!«
»Das Blut seines Vaters spricht aus ihm«, sagte Unis hinzutretend. »Wer auch die Zauberin sei, sie muß uns heilig sein, denn sie hat den künftigen König Ägyptens vor einer großen Gefahr bewahrt.«
Unwillig wandte sich Ata ab. »Ihr werdet die Folgen sehen! Man wird uns an der Weiterfahrt hindern. Schon lange ahnte ich, daß König Pepi Verdacht hat.«
Dann richtete er das Wort an Nefer: »Sag, kanntest du die Leute, die uns angriffen?« fragte er barsch.
»Ja«, antwortete sie.
»Warum haben sie gerade diesen Ort gewählt, um das Bastfest zu feiern?«
»Das weiß ich nicht. Es sind Schiffer und Fischer der Umgegend.«
»Nur diese, und keine anderen? Du weißt mehr.«
»Es waren auch einige dabei, die ich früher nie hier gesehen habe.«
»Leute aus Memphis?« forschte Ata weiter.
»Ich vermute es«, sagte sie.
»Du kennst diese Gegend genau?«
»Seit einigen Jahren wandere ich am Nilufer von Ort zu Ort, um den Bewohnern zu weissagen. Auch meine Mutter war eine berühmte Weissagerin.«[20]
Mirinri mischte sich jetzt an. »Woran erkanntest du, daß ich ein Pharao bin?«
»Als ich dich sah, fühlte ich einen seltsamen Schauer in meinen Adern. Ich fühlte dasselbe, als ich vor einigen Wochen einer Prinzessin prophezeite, daß sie einen Unfall im Nil haben würde.«
»Was sagst du, Mädchen?« rief der Jüngling erregt. »Du kennst jene Prinzessin?«
»Ich prophezeite ihr auch ein schweres Unglück, das ihrem Vater bevorstünde, und zwar in nicht zu ferner Zeit. Man wird ihm seine Macht rauben und seinen Ruhm für immer verdunkeln.«
»Kannst du auch mein Schicksal voraussagen?«
»Ja, Herr, aber nicht jetzt in der Nacht. Dazu muß ich den Sonnenaufgang abwarten, denn du bist ein Sohn der Sonne. Die Stimme des großen Osiris muß aus mir sprechen, seine Seele muß mich beeinflussen!«
»Gut«, sagte Mirinri, den Atas Mißtrauen doch wohl etwas zweifelnd gemacht hatte, »aber ich muß dir gestehen, daß ich nicht weiß, ob ich deinen Prophezeiungen glauben soll.«
»Gab ich dir nicht einen Beweis, indem ich sofort, als ich dich erblickte, ein göttliches Wesen in dir erkannte?«
»Vielleicht haben die Bastanbeter meine Herkunft erfahren!«
»Ich wüßte nicht, daß sie einen Pharao erwarteten.«
»Die Betrunkenen wohl nicht, aber jene, die aus Memphis kamen«, sprach Ata mit finsterem Gesichtsausdruck dazwischen. »Man vermutete, daß wir einen Königssohn auf dem Schiff haben. Das Fest war nur ein Vorwand – man wollte uns in einen Hinterhalt locken.«
»Ich habe nichts davon gehört.«
»Aber warum verfolgte man dich? Warum wollte man dich töten?« fragte jetzt der Priester.
»Weil man den Tod meines Freundes rächen wollte. Er hatte sich auf meine Veranlassung in den Kantatek-Tempel gewagt, um das dort versteckte Gold zu holen.«
»Was für Märchen erzählst du uns da!« rief Ata zornig.
»Ich werde euch alles ausführlich berichten, wenn ...«
Plötzlich hörte man Schreckensrufe seitens der Äthiopier, die eben noch den letzten Rest der Schlinggewächse abschnitten. Über den Palmen am Ufer leuchteten mit einem Mal unendlich viele bläulich schimmernde Punkte auf.
»Was soll das bedeuten? Sind das Sterne?« fragte Mirinri überrascht.
»Ja, Sterne, die unser Fahrzeug anzünden werden, wenn wir nicht schnell entfliehen!« antwortete bitter der Alte. »Da die Schufte nicht selber den Mut haben, einen Pharao anzugreifen, so sollen es die Kriegstauben[21] für sie tun.«
Dann wandte er sich zu den Äthiopiern um, die ihre Arbeit unterbrochen hatten. »Seid ihr fertig?«
»In wenigen Augenblicken.«
»Beeilt euch, wenn euch das Leben lieb ist! Diese Gefahr ist schlimmer als viele andere. Sechs Mann nach dem Mastbaum. Sie sollen die Segel entfalten. Der Wind ist günstig.«
»Seht nur«, fuhr er, zu Unis und Mirinri gewandt, fort. »Der Vogelschwarm kommt auf uns zu. Nehmt die Bogen und spart nicht mit den Pfeilen. In kurzem werden wir in einem Feuernetz sein. Osiris möge den König Ägyptens schützen!«
Tauben als Brandstifter
Der Vogelschwarm näherte sich. Er durchbrach die Nacht wie eine Funkengarbe. Sein Ziel war unverkennbar: Das Schiff, auf dem der junge Pharao sich befand.
»Du wolltest nicht glauben, Herr, daß uns jene drüben eine Falle gestellt haben«, wandte sich Ata an Mirinri, der die Feuerturbine beobachtete.
»Wer dirigiert denn die Vögel?« fragte der Jüngling.
»Die Bastanbeter! Siehst du nicht die flammenden Pfeile zu beiden Seiten des Schwarms? Sie verhindern, daß die Tauben auseinanderflattern. Diese feurigen Linien sind wie ein glühendes Netz!«
»Ich dachte nicht, daß wir ernstlich Gefahr liefen. Aber unsere Segel sind ja herabgelassen, die Vögel werden darüber hinfliegen.«
»Der Brennstoff, den sie am Schwanz tragen, kann gerade auf uns niederfallen und unser Schiff in Brand stecken. Schau nur hin, die Feuerbündel fallen gleich«, rief Ata. »Wir müssen aus dem Kanal heraus! – Beeilt euch«, befahl er den Äthiopiern. »Seht ihr denn nicht, daß die Tauben schon kommen?«
In diesem Augenblick ließ sich die Stimme Nefers vernehmen. Das Mädchen hatte bisher stumm zugehört. »Laßt nur! Ich werde den Vögeln meinen Fluch entgegenschleudern. Isis, die den Zauberinnen hold ist, wird mich erhören und uns vor einer neuen Gefahr schützen.«
Ein ungläubiges Lächeln umspielte Mirinris Lippen. »Versuch es«, sagte er.
Sie eilte zu der Hinterseite des Schiffs, stieg auf eine erhöhte Stelle und breitete die Arme nach den Lichtern aus, die schon vereinzelt in den Nil fielen.
»O, Isis, hohe Göttin, erhöre mich!« rief sie mit heller Stimme.
»Beschütze den Sonnensohn vor Gefahr! Komm, Horus[22], mit deinem Sperber! Ist dieser auch klein, ist dieser auch schwach, so kannst du ihm doch Kräfte verleihen, daß er die schreckliche Vogelschar vertreibe. Du, Göttin des Schmerzes, und du, Gott des Lichts, rettet euren Sohn. O Sonne, laß deine Zunge sprechen! O großer Osiris, hebe deine Hand und zeige deine Macht! Kommt alle, alle! Befreit ihn, rettet ihn, den jungen Pharao! Gott des Lichts, Göttin des Schmerzes und Göttin der Toten, helfet!«
Während die Zauberin so sprach, zitterte sie heftig, als ob eine geheimnisvolle Kraft sich ihrer bemächtigt hatte. Ihre Armspangen und Knöchelringe klirrten.
Mirinri schaute sie an. Ihre langen, schwarzen Haare hingen ihr über die entblößten Schultern. Ist sie von einem Gott geschaffen oder von einem bösen Geist? dachte er.
Da wandte sie sich langsam zu ihm um und lächelte ihn an. »O Sonnensohn«, flüsterte sie, kaum hörbar. »Für dich würde ich in das Reich der Finsternis gehen, für dich sterben!«
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Auch die Griechen benutzten noch Jahrtausende später die Tauben zu Kriegsdiensten. Ebenso zu Handelszwecken, besonders aber bediente man sich ihrer bei den Olympischen Spielen. Die Teilnehmer an den Wettkämpfen schickten an ihre entfernt wohnenden Verwandten und Freunde die Siegesnachrichten durch Tauben.
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