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Aber dann, als Lansing zum Lager rannte, erblickte er Sandra. Sie kauerte beim Turm, hatte sich dicht an seine Basis geschmiegt. Sie rührte sich nicht. Der Wind spielte mit ihrem Schal, das war die einzige Bewegung.

Benommen hielt Lansing an. Eine kalte Hand griff nach seinem Herzen, Panik stieg in ihm auf.

»Mary!« rief er. »Ich bin wieder da! Mary, wo bist du?« Aber Mary antwortete nicht. Niemand antwortete. Sandra mußte wissen, wo sie war. Offensichtlich schlief sie. Aber er würde sie wachrütteln. Sie würde es ihm sagen.

Er kniete sich neben sie und schüttelte sie sanft. Etwas war falsch an ihr, schrecklich falsch - sie hatte kein Gewicht. Er schüttelte sie noch einmal, etwas heftiger diesmal. Da sank sie zur Seite, und er sah ihr Gesicht: Es war das eingetrocknete Gesicht einer Mumie.

Erschreckt ließ Lansing Sandras Schulter los. Ihr Kopf fiel zurück, das Gesicht sah ihn nicht mehr an. Tot, dachte er - als ob sie schon tausend Jahre tot sei! Ausgedörrt unter ihren Kleidern, die jetzt im Winde flatterten! Verwelkt und vertrocknet wie eine Hülse, der alle Substanz entzogen war!

Er stand auf und wandte sich ab. Schwankend ging er zum Lagerfeuer und hielt die Hände über die Asche. Er fühlte keine Wärme. Er stocherte in der Asche, aber das Feuer war tot, keine Glut verbarg sich unter der grauen Schicht. Ein Rucksack lag neben der Feuerstelle, ein Rucksack nur. Sandras vermutlich. Marys Rucksack war fort.

Er ließ sich wie betäubt an der Feuerstelle nieder. Er fühlte weder Schrecken noch Kummer - nur Leere. Sandra tot, Mary fort und das Feuer. Es mußte Stunden gedauert haben, bis das Feuer völlig niedergebrannt war. Mary war schon seit Stunden fort.

Die Taubheit in seinem Gehirn ließ etwas nach, Panik begann sich einzuschleichen. Aber er kämpfte sie nieder. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, sich Angst und Panik zu überlassen! Wichtig war im Moment, daß er alles genau durchdachte, alle Teile zusammenfügte und herausbekam, was geschehen sein mochte.

Das Lager war verlassen. Jorgenson und Melissa waren nicht da, aber das hatte nichts zu bedeuten. Sie konnten aufgehalten worden sein. Alle hatten sich darauf geeinigt, daß die beiden Gruppen innerhalb von vier Tagen zum Lager zurückkehren wollten, aber der vierte Tag war noch nicht zu Ende. Sandra war tot, und es hatte den Anschein, als sei sie schon sehr lange tot. Aber das war unmöglich. Vor vier Tagen hatte sie noch gelebt, vor weniger als vier Tagen. Der Turm, dachte Lansing bitter. Der singende Turm hatte sie leer gesaugt, ausgetrocknet, bis nichts mehr von ihr übrig war. Vielleicht hatte sie gewußt, was er mit ihr tat, und es zugelassen. Vielleicht hatte sie ihm ihre Lebenssubstanz gerne gegeben, als Weihgabe für die Schönheit, die er ihr schenkte. Mary war fort, aber sie war nicht geflohen. Sie war nicht schreiend in die Wildnis gerannt. Ihr Rucksack war nicht mehr da. Sie hatte ihn genommen und war gegangen. Aber warum hatte sie ihm keine Nachricht hinterlassen, wohin sie gegangen war? Vielleicht lag irgendwo ein Zettel, von einem Stein beschwert.

Lansing erhob sich und suchte die Umgebung ab. Er fand nichts. Um sicherzugehen, suchte er ein zweitesmal, fand aber auch diesmal nichts.

Vielleicht war sie nach Norden aufgebrochen, in der Hoffnung ihm und Jürgens zu begegnen. Oder sie hatte sich nach Westen gewandt, um Jorgenson und Melissa zu treffen. Diese Möglichkeit hielt Lansing allerdings für recht unwahrscheinlich, denn Mary hatte die beiden nicht sonderlich gern gemocht. Vielleicht war sie auch zum zweiten Gasthaus zurückgekehrt und wartete dort auf ihn.

Alles der Reihe nach, sagte er sich, erstaunt über seine Gelassenheit. Er würde also zunächst zu den Dünen zurückgehen und von dort aus in weitem Bogen das Gelände nach ihren Spuren absuchen. Dann fiel Lansing ein, daß Mary, falls sie nach Norden gegangen war, die Spur hätte finden müssen, die er und Jürgens hinterlassen hatten. Sie wäre dieser Spur bestimmt gefolgt, er hätte ihr also auf dem Rückweg begegnen müssen. Trotzdem machte Lansing sich auf den Weg, entdeckte aber keine Spuren außer seinen eigenen und denen von Jürgens. Er untersuchte sie sehr sorgfältig nach Hinweisen auf eine dritte Person, aber er fand nur die Fußabdrücke von Jürgens, die nach Norden führten und seine eigenen vom Hin- und Rückweg. Eine dritte Person war diesen Weg nicht gegangen. Es dunkelte bereits, als er endlich zum Lager zurückkehrte. Eine Zeitlang stand er nachdenklich da, unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Schließlich entschied er sich für das einzig Richtige, das er in seiner Situation tun konnte. Aber die Entscheidung fiel ihm äußerst schwer, und es kostete ihn Mühe, seine Schuldgefühle niederzukämpfen.

Er war völlig erschöpft. Er war vier volle Tage unterwegs gewesen, hatte kaum geschlafen und nicht gerastet. Er brauchte etwas Erholung, um wieder ein normaler Mensch zu werden. Es würde weder Mary noch ihm helfen, wenn er sich total übermüdet weiter fortschleppte, unfähig zur Wahrnehmung und unfähig zu denken. Vielleicht würden bis zum Morgen auch Jorgenson und Melissa eintreffen. Sie konnten ihm dann wenigstens bei der Suche helfen. Aber auf die beiden setzte er im Grunde wenig Hoffnung. Er hielt von ihnen nicht mehr als Mary. Bestenfalls waren sie zwei arme Teufel. Er fand Holz, entfachte ein Lagerfeuer, kochte Kaffee, briet Schinken und ein paar Pfannkuchen und öffnete eine Dose Apfelmus - es war seine erste richtige Mahlzeit seit vier Tagen. Der Gedanke an Mary verließ ihn keinen Augenblick, aber er sagte sich immer wieder, daß es ihr gutgehe und sie in Sicherheit sei, wo immer sie sich auch aufhalten mochte. Er versuchte, Angst und Sorgen aus seinem Gehirn zu verdrängen, doch das wollte ihm nicht ganz gelingen.

Lansing dachte lange darüber nach, was Mary wohl veranlaßt haben mochte, das Lager zu verlassen. Welchen Grund sie auch gehabt hatte, er mußte zwingend gewesen sein. Anderenfalls hätte sie seine Rückehr abgewartet. Lansing machte sich daran, eine Liste von möglichen Gründen aufzustellen, aber das war ein fruchtloses Unterfangen. Langsam bekam er Angst. Nur mit Mühe gelang es ihm, seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.

Er dachte an Sandra. Sollte er sie beerdigen? Sollte er ein Loch ausheben, sie hineinlegen, mit Erde bedecken und, wenn all dies vollbracht war, ein paar gräßliche und nutzlose Worte sprechen? Aus irgendeinem Grund - er hätte selbst nicht genau sagen können, warum - schien ihm das nicht angemessen zu sein. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, daß es einem Sakrileg gleichkäme, wenn er Sandra störte. Wahrscheinlich war es das beste, sie so zu lassen, wie sie war, ein verdorrtes (und heiliges?) Opfer am Fuß des singenden Turmes. Der Gedanke schien keinen Sinn zu ergeben, aber auf eine verrückte Weise doch wiederum etwas Logik zu enthalten. Wie würde Sandra es sich gewünscht haben, fragte er sich. Er konnte diese Frage nicht beantworten, dazu hatte er Sandra nicht gut genug kennengelernt, was er jetzt bedauerte. Vielleicht hatte er keinen der Gruppe so gut gekannt, wie es richtig gewesen wäre. Trotz der vielen Tage, die sie zusammen verbracht hatten, waren ihm die anderen mehr oder weniger fremd geblieben. Brauchte es ein Lebensalter, um einen Menschen wirklich kennenzulernen, fragte er sich. Von den ursprünglich sechs Mitgliedern waren nur noch er und Mary übriggeblieben. Und nun war auch Mary fort. Aber er würde sie finden, sagte er sich, er würde sie finden. Nachdem er gegessen hatte, kroch er in den Schlafsack. Er war schon fast eingeschlafen, als ihn ein Geräusch hochriß: das Schluchzen des Heulers. Es erklang nicht aus der Nähe, aber in der Stille der Nacht war die Klage dennoch laut. Er saß und lauschte, und ihm fiel die erste Nacht auf der Wanderung nach Norden ein. Damals hatte er geglaubt, ein fernes Heulen zu vernehmen, aber Jürgens, den er danach gefragt hatte, wollte nichts gehört haben.