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»Warte!«, stieß sie hervor. »Darf ich sprechen, bevor ich sterbe?«

Sie spürte, dass Sen innehielt. Mairae blieb stehen und blickte über ihre Schulter hinweg zu Bai hinüber. Der Dunweger lächelte.

»Sprich«, sagte er.

Auraya blickte von Mairae zu Bai und griff nach den Worten, die sie seit Tagen im Stillen geprobt hatte. »Es gibt vier Möglichkeiten, wie diese Sache entschieden werden kann«, erklärte sie. »Erstens, die Dunweger könnten nachgeben und den Weißen ihren Willen lassen.« Sie sah zu Bai hinüber. »Das ist unwahrscheinlich. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass die Weißen nachgeben und auf einen besseren Zeitpunkt warten werden, um ein Bündnis zu schließen, denn sie werden nicht wollen, dass irgendjemand euch nachahmt.«

Ihr Mund war so trocken. Sie hielt inne, um zu schlucken.

»Es sieht so aus, als müssten die Weißen zulassen, dass die Leven-ark uns töten. Dann werden entweder die Weißen oder I-Portak die Leven-ark töten. Man wird uns alle als Märtyrer sehen, die für ihr Land oder ihre Sache gestorben sind.« Wieder wandte sie sich an Bai. »Oder ist das ein Irrtum? Wenn ihr euer Leben lasst, wird der Zauberer-Clan dennoch zu existieren aufhören. Eure Mission scheitert.«

Sie drehte sich zu Mairae um. »Es muss noch eine andere Lösung geben.«

Alle starrten sie an. Sie zwang sich, abermals den Blick auf Bai zu richten. Lasst es so aussehen, als seien die Leven-ark gescheitert. »Ihr habt alle Ehre hinter euch gelassen und seid mit der Bereitschaft hierhergekommen, euer Leben zu opfern, um den Zauberer-Clan zu retten. Seid ihr bereit, stattdessen euren Stolz zu opfern?«

Bai runzelte die Stirn. »Unseren Stolz?«

»Wenn ihr den Weißen gestattet, euch in Schande aus Hania hinauszuführen – wenn ihr ein Scheitern eurer Mission vortäuscht -, dann werden wir nicht befürchten müssen, dass andere euch nachahmen.« Sie sah Mairae an. »Wenn er zustimmt, werdet ihr dann die Bedingungen eurer Allianz ändern?«

»Und den Clan fortbestehen lassen?«

»Ja. Selbst ich, die ich in diesem winzigen Dorf lebe, weiß von dem berühmten dunwegischen Feuerkrieger-Clan.«

Mairae nickte. »Ich bin einverstanden, sofern das Volk von Dunwegen den Clan behalten will.«

»Verändert die Bedingungen der Allianz – aber nicht sofort, sonst werden andere eine Verbindung zwischen dem Erscheinen der Leven-ark hier und der Veränderung sehen. Benutzt eine List, um die Veränderung zu rechtfertigen.«

Bai und Mairae blickten nachdenklich drein. Sen stieß einen dumpfen Laut aus, dann sagte er einige Worte auf Dunwegisch. Bei Bals Antwort versteifte er sich, verfiel jedoch in Schweigen.

»Gibt es noch etwas, das du zu sagen wünschst, Mädchen?«, fragte Bai.

Auraya neigte den Kopf. »Ich wäre euch dankbar, wenn ihr meine Familie und meine Nachbarn nicht töten würdet.«

Bai wirkte erheitert. Er drehte sich zu Mairae um. Auraya kämpfte den wachsenden Verdacht nieder, dass sie sich soeben zum Narren gemacht hatte.

Ich musste es versuchen. Wenn mir eine Möglichkeit eingefallen wäre, das Dorf zu retten, und ich es nicht versucht hätte, wäre ich... wäre ich am Ende ohnehin gestorben.

»Bist du bereit, die Welt glauben zu machen, deine Mission sei gescheitert?«, fragte Mairae.

»Ja«, antwortete Bai. »Aber meine Männer müssen ebenfalls zustimmen. Wenn sie es tun, werdet ihr dann die Bedingungen der Allianz verändern?«

»Falls die anderen Weißen und I-Portak zustimmen, ja. Sollen wir uns mit unseren Leuten beraten und uns in einer Stunde wieder treffen?«

Bai nickte.

»Ihr werdet bis dahin keinem der Dorfbewohner Schaden zufügen?«

»Ich schwöre im Namen von Lore, dass ihnen kein Leid geschehen wird. Aber wie können wir darauf vertrauen, dass ihr die Bedingungen der Allianz tatsächlich verändern werdet, wenn wir abgezogen sind?«

Mairaes Lippen entspannten sich zu einem Lächeln. »Die Götter gestatten uns nicht, unsere Versprechen zu brechen.«

Bai knurrte. »Damit müssen wir uns zufriedengeben. Kehre in einer Stunde zurück. Dann werden wir dir unsere Antwort geben.«

Als Mairae den Tempel betrat, verstummten die Dorfbewohner.

»Es ist eine friedliche Lösung gefunden worden«, erklärte sie. »Die Dunweger sind fort. Ihr dürft in eure Häuser zurückkehren.«

Sofort brandete Jubel im Tempel auf.

Auraya war Mairae, Avorim und Qurin in den Raum gefolgt. »Du kleine Närrin!«, rief eine vertraute Stimme. Ihre Mutter eilte auf sie zu, um sie fest in die Arme zu schließen.

»Warum hast du das getan?«

»Ich werde es dir später erklären.« Auraya hielt Ausschau nach Leiard, aber der Traumweber war nirgends zu sehen. Als ihre Mutter sie losließ, wurde ihr plötzlich bewusst, dass Mairae neben ihr stand.

»Auraya Färberin«, sagte die Weiße. »Das war sehr mutig von dir.«

Auraya spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. »Mutig? Ich hatte die ganze Zeit über furchtbare Angst.«

»Und doch hast du dich von deiner Furcht nicht zum Schweigen bringen lassen.« Die Frau lächelte. »Du hast einen seltenen Scharfblick bewiesen. Von Avorim weiß ich, dass du eine intelligente und mit außerordentlichen Gaben gesegnete Schülerin bist.«

Auraya sah den Priester überrascht an. »Das hat er gesagt?«

»Ja. Hast du es einmal in Betracht gezogen, der Priesterschaft beizutreten? Du bist zwar älter als die meisten unserer Akolythen, aber nicht zu alt.«

Kummer stieg in Auraya auf. »Ich würde schrecklich gern Priesterin werden, aber meine Mutter...« Sie blickte zu ihren Eltern hinüber. »Sie ist krank. Ich kümmere mich um sie.«

Mairae drehte sich zu Aurayas Mutter um. »Die Heiler des Tempels sind die Besten im Land. Wenn ich einen hierherschicke, der dich versorgt, würdest du Auraya dann gestatten, sich uns beizugesellen?«

Auraya, die sich plötzlich seltsam benommen fühlte, sah wieder zu ihren Eltern hinüber, deren Augen sich vor Erstaunen geweitet hatten.

»Ich möchte euch nicht so viel Mühe bereiten«, begann ihre Mutter.

Mairae lächelte. »Betrachte es als einen Tausch: eine neue Priesterin gegen eine voll ausgebildete. Auraya verfügt über zu großes Potenzial, als dass man es vergeuden dürfte. Was sagst du dazu, Auraya?«

Auraya öffnete den Mund und stieß ein würdeloses Quieken aus, an das sie sich noch jahrelang voller Verlegenheit erinnern sollte. »Das wäre wunderbar!«

Teil 1

1

Obwohl Danjin Speer schon mehrfach im Tempel des Jarime gewesen war, hatte er heute zum ersten Mal das Gefühl, wirklich dort angekommen zu sein. In der Vergangenheit war er auf Geheiß anderer hier gewesen oder um mindere Dienste als Übersetzer zu leisten. Diesmal war es anders; diesmal war er hier, um, wie er hoffte, die bedeutendste Stellung seiner Laufbahn anzutreten.

Wohin auch immer ihn dies führen würde, und selbst wenn er versagte oder seine Pflichten sich als lästig oder unerfreulich erweisen sollten, diesen Tag würde er nie wieder vergessen. Er nahm seine Umgebung viel deutlicher wahr als sonst – vielleicht um sie sich für spätere Betrachtung einzuprägen. Vielleicht liegt es nur an meiner Nervosität, dachte er, dass diese Reise mir so vorkommt, als dauere sie eine Ewigkeit.

Man hatte ihn von einem Plattan abholen lassen. Der kleine, zweirädrige Wagen schaukelte sacht hin und her, den Bewegungen des Arem folgend, der ihn zog. Langsam kamen sie an anderen Wagen vorbei, an Dienstboten und Soldaten und an reichen Männern und Frauen, die umherschlenderten. Danjin biss sich auf die Unterlippe und widerstand der Versuchung, den Mann, der auf dem schmalen Kutschbock hockte, das sanftmütige Geschöpf zu einer schnelleren Gangart antreiben zu lassen. Alle Diener des Tempels besaßen eine stille Würde, die die meisten Menschen davon abhielt, sie herumzukommandieren. Vielleicht lag das daran, dass ihr Verhalten an das der Priester und Priesterinnen erinnerte, und sie kommandierte man gewiss nicht herum.