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Schließlich sagte sie:»Du bist größer, als ich dachte. Und härter.«

Ich wartete weiter.

«Wo ist deine Mutter?«sagte sie.

Meine Mutter, ihre Tochter.»In den Wind gestreut«, sagte ich.

«Was soll das heißen?«

«Ich glaube, sie ist tot.«

«Du glaubst es!«Sie schien eher ärgerlich als besorgt.»Weißt du es denn nicht?«

«Sie hat’s mir nicht direkt schriftlich gegeben, daß sie tot ist, nein.«

«Deine Frivolität ist unerhört.«

«Dein Verhalten seit meiner Geburt gibt dir nicht das Recht, so etwas zu sagen«, sagte ich.

Sie blinzelte. Ihr Mund öffnete sich und stand volle fünf Sekunden offen. Dann schloß er sich fest, so daß die Muskeln an ihrem Kiefer hervortraten, und sie starrte mich mit einer beängstigenden Mischung aus Zorn und Feindseligkeit finster an. Ich erkannte an diesem Gesichtsausdruck, womit meine arme Mutter sich einst hatte auseinandersetzen müssen, und wurde jäh von Mitleid für diesen hilflosen Schmetterling ergriffen, der mich geboren hatte.

Als ich noch ganz klein war, hatte man mich eines Tages in neue Kleider gesteckt und ermahnt, ganz brav zu sein, weil ich mit meiner Mutter meine Großmutter besu-chen sollte. Meine Mutter hatte mich dort, wo ich damals gerade wohnte, abgeholt, und wir waren mit dem Auto zu einem großen Haus gefahren, wo man mich allein in der Eingangshalle warten ließ. Hinter einer weißgestrichenen, geschlossenen Tür war lautstark gestritten worden. Dann war meine Mutter weinend herausgekommen, hatte mich bei der Hand gepackt und hinter sich her zum Auto gezerrt.

«Komm, Philip. Wir werden sie nie wieder um einen Gefallen bitten. Sie wollte dich nicht einmal sehen. Vergiß das nie, Philip, deine Großmutter ist ein gehässiges Biest.«

Ich hatte es nicht vergessen. Ich hatte selten daran gedacht, aber ich konnte mich noch deutlich erinnern, wie ich auf dem Stuhl in der Halle saß, ohne mit den Füßen bis auf den Boden zu reichen, und steif in meine neuen Kleider eingezwängt wartete und dem Gezeter lauschte.

Von ein, zwei traumatischen Wochen dann und wann einmal abgesehen, hatte ich eigentlich nie richtig mit meiner Mutter zusammengelebt. Wir hatten kein Haus, keine Adresse, keine feste Bleibe. Da sie selbst ständig auf Achse war, hatte sie das Problem meiner Unterbringung einfach gelöst, indem sie mich, mal kürzer, mal länger, bei einer langen Reihe von meist verwunderten verheirateten Freundinnen ablud, die, wenn man’s nachträglich bedenkt, bemerkenswert großzügig gewesen waren.

«Sei so gut und paß ein paar Tage auf Philip auf, Liebes«, sagte sie etwa, wenn sie mich wieder einmal auf eine fremde Dame zuschubste.»Bei mir geht im Moment alles drunter und drüber, und ich weiß beim besten Willen nicht, wohin mit ihm. Du weißt ja, wie das ist, liebe Deborah… (oder Miranda oder Chloe oder Samantha oder wer auch immer unter der Sonne)… sei ein Schatz, ich hol ihn dann am Samstag wieder ab, ganz bestimmt. «Meistens gab sie dann der lieben Deborah oder Miranda oder Chloe oder Samantha einen dicken Schmatz, und weg war sie in einer Wolke von Parfüm.

Der Samstag kam, aber meine Mutter nicht, doch zu guter Letzt tauchte sie immer wieder auf, total aufgekratzt, lachend und überströmend vor Dankbarkeit, und holte sozusagen ihr Paket von der Gepäckaufbewahrung ab. Manchmal wurde ich ein paar Tage, manchmal ein paar Wochen oder gar Monate nicht abgeholt. Ich wußte vorher nie, was auf mich zukam, und ich fürchte, meinen Gastgeberinnen ging es nicht anders. Meistens bezahlte sie wohl etwas für meine Betreuung, aber das wurde alles unter Gekicher abgewickelt.

Sie war sogar in meinen Augen bildhübsch, so daß jeder sie gern in die Arme schloß und ihr alles durchgehen ließ; die Leute blühten in ihrer Gegenwart auf. Erst hinterher, wenn sie buchstäblich mit dem Baby im Arm zurückblieben, meldeten sich Zweifel. Ich wurde ein verschrecktes, stilles Kind, schlich ständig nervös auf Zehenspitzen herum, um niemandem zur Last zu fallen, stets voller Furcht, man könnte mich eines Tages auf der Straße aussetzen.

Rückblickend wurde mir klar, daß ich Samantha, Deborah, Chloe und den anderen eine Menge zu verdanken hatte. Ich mußte nie hungern, wurde nie schlecht behandelt und letztendlich nie total abgelehnt. Gelegentlich nahm jemand mich zwei- oder dreimal auf, manchmal erfreut, meistens resigniert. Als ich drei oder vier war, brach-te mir jemand mit langen Haaren und Armreifen und folkloristischer Kleidung Lesen und Schreiben bei. Aber ich war nie so lange an einem Ort, daß ich richtig zur Schule gehen konnte. Aus diesem außergewöhnlichen, orientierungslosen und entwurzelten Leben kam ich mit zwölf Jahren heraus. Damals wurde ich in mein erstes dauerhaftes Zuhause verfrachtet, fähig zu fast jeder Arbeit, die im Haushalt anfiel, aber unfähig zu lieben.

Sie gab mich bei zwei Fotografen ab, Duncan und Charlie, in deren großem Atelier mit dem nackten Fußboden, der Dunkelkammer, einem Badezimmer, einem Gaskocher und einem Bett hinterm Vorhang.

«Ihr Lieben, paßt doch bitte bis Samstag auf ihn auf, wirklich riesig nett von euch. «Und obwohl in den nächsten drei Jahren Geburtstagskarten und Weihnachtsgeschenke ankamen, sah ich sie in der Zeit nicht wieder. Als Duncan dann auszog, rauschte sie eines Tages herein, holte mich von Charlie weg und brachte mich nach Hampshire zu einem Rennpferdtrainer und seiner Frau. Sie beteuerte ihren überrumpelten Freunden:»Nur bis Samstag, meine Lieben, und er ist fünfzehn und stark, er kann für euch die Ställe ausmisten und all so was.«

Zwei Jahre lang kamen Karten und Geschenke, immer ohne Absender. Zu meinem achtzehnten Geburtstag kam keine Karte, und Weihnachten danach kam kein Geschenk. Seither hatte ich nie wieder von ihr gehört.

Später kam ich zu dem Schluß, daß sie an Drogen gestorben sein mußte. Als ich älter wurde, konnte ich mir einiges zusammenreimen.

Die alte Frau starrte durchs Zimmer, so unversöhnlich und auf Zerstörung aus wie eh und je und immer noch wütend wegen meiner Worte.

«Du kommst bei mir nicht weit, wenn du so daherredest«, sagte sie.

«Ich will gar nicht weit kommen. «Ich stand auf.»Dieser Besuch bringt nichts. Wenn dir daran gelegen war, deine Tochter wiederzufinden, dann hättest du vor zwanzig Jahren suchen müssen. Und was mich betrifft… Ich würde sie nicht für dich ausfindig machen, selbst wenn ich es könnte.«

«Ich will nicht, daß du Caroline suchst. Ich glaube, du hast recht, sie ist tot. «Diese Vorstellung bereitete ihr ersichtlich keinen Kummer.»Ich möchte, daß du deine Schwester suchst.«

«Meine. was?«

Die feindseligen dunklen Augen taxierten mich listig.»Du hast nicht gewußt, daß du eine Schwester hast? Aber du hast eine. Ich vermache dir hunderttausend Pfund in meinem Testament, wenn du sie findest und zu mir bringst. Und glaub ja nicht, daß du mir irgendeine kleine Schwindlerin präsentieren kannst, auf die ich dann hereinfalle«, fuhr sie bissig fort, bevor ich zu Wort kam.»Ich bin zwar alt, aber kein bißchen verkalkt. Du müßtest Mr. Folk eindeutig beweisen, daß das Mädchen meine Enkelin ist. Und Mr. Folk wird nicht leicht zu überzeugen sein.«

Ich hörte die scharfen Worte kaum, sondern spürte nur einen seltsam heftigen Schock. Ich war der einzige gewesen. Die einzige Frucht des Schmetterlings. Ich spürte eine unangebrachte, brennende Eifersucht, weil es eine zweite gab. Sie hatte mir allein gehört, und jetzt mußte ich sie teilen, mußte ihr Andenken revidieren und teilen. Ich dachte verwirrt, daß es lächerlich war, sich mit dreißig zurückgesetzt zu fühlen wie ein Zweijähriger.

«Also?«sagte meine Großmutter scharf.

«Nein«, sagte ich.