»Wir klären das schon«, versprach sie.
Er sah sie zögernd an, als ob er ihr zu gern geglaubt hätte. »Annabeth und Rachel kommen heute Abend zur Besprechung. Ich sollte vielleicht bis dahin warten und dann alles erklären …«
»Okay.« Sie zupfte einen Grashalm neben ihrem Fuß aus dem Boden. Sie wusste, dass ihnen beiden gefährliche Dinge bevorstanden. Sie würde es mit Jasons Vergangenheit aufnehmen müssen und vielleicht würden sie den Krieg gegen die Riesen ja gar nicht überleben. Aber für den Moment waren sie beide am Leben, und sie war entschlossen, den Augenblick zu genießen.
Jason betrachtete sie aufmerksam. Die Tätowierung an seinem Unterarm sah im Sonnenschein blassblau aus. »Du bist so gut gelaunt. Wie kannst du so sicher sein, dass alles gut gehen wird?«
»Weil du uns anführst«, sagte sie einfach. »Ich würde dir überallhin folgen.«
Jason blinzelte. Dann breitete sich langsam ein Lächeln in seinem Gesicht aus. »Gefährlich, so was zu sagen.«
»Ich bin ein gefährliches Mädchen.«
»Das glaube ich gern.«
Er stand auf, klopfte seine Shorts ab und streckte ihr die Hand hin. »Leo sagt, er will uns im Wald etwas zeigen. Kommst du mit?«
»Das lass ich mir doch nicht entgehen.« Sie nahm seine Hand und stand auf.
Für einen Moment hielten sie einander an den Händen. Jason legte den Kopf schräg. »Wir sollten mal losgehen.«
»Ja«, sagte sie. »Nur eine Sekunde.«
Sie ließ seine Hand los und zog eine Karte aus der Tasche – die silberne Visitenkarte der Jägerinnen der Artemis, die Thalia ihr gegeben hatte. Sie ließ die Karte in ein ewiges Feuer in der Nähe fallen und sah zu, wie sie verbrannte. Von jetzt an würden in der Aphrodite-Hütte keine Herzen mehr gebrochen werden. Diesen Übergangsritus mussten sie echt nicht haben.
Auf der anderen Seite der Wiese schienen ihre Mitbewohner enttäuscht, weil sie keinen Kuss gesehen hatten. Sie kassierten ihre Wettgewinne ein.
Aber das war schon in Ordnung. Piper war geduldig und sie sah eine Menge guter Gelegenheiten vor sich.
»Gehen wir«, sagte sie zu Jason. »Wir haben ein paar Abenteuer zu planen.«
LIII
Leo
Leo war nicht mehr so nervös gewesen, seit er den Werwölfen Tofuburger angeboten hatte. Als er zu dem Kalksteinfelsen im Wald kam, drehte er sich zu den anderen um und lächelte zaghaft. »Also los.«
Er befahl seiner Hand, Feuer zu fangen, und hielt sie gegen die Tür.
Seine Mitbewohner keuchten auf.
»Leo!«, rief Nyssa. »Du bist ja ein Feuernutzer!«
»Ja, danke«, sagte er. »Das weiß ich.«
Jake Mason, der vom Gips befreit war, aber noch immer an Krücken ging, sagte: »Heiliger Hephaistos. Das bedeutet – es kommt so selten vor, dass …«
Die gewaltige Steintür öffnete sich und allen fiel das Kinn herunter. Leos lodernde Hand war plötzlich nebensächlich. Sogar Piper und Jason sahen verblüfft aus, und sie hatten in letzter Zeit wirklich reichlich seltsame Dinge gesehen.
Nur Chiron wirkte nicht überrascht. Der Zentaur zog seine buschigen Augenbrauen zusammen und strich sich den Bart, als wollte die Gruppe den Gang durch ein Minenfeld antreten.
Das machte Leo noch nervöser, aber er konnte jetzt nicht mehr zurück. Sein Instinkt sagte ihm, dass er diesen Ort hier teilen musste – zumindest mit der Hephaistos-Hütte, und vor Chiron und seinen beiden besten Freunden konnte er ihn auch nicht geheim halten.
»Willkommen in Bunker 9«, sagte er, so zuversichtlich er konnte. »Hereinspaziert.«
Keiner sagte etwas, als sie sich überall umsahen. Alles war so, wie Leo es verlassen hatte – riesige Maschinen, Arbeitstische, alte Landkarten und Baupläne. Nur eines hatte sich geändert. Auf dem Tisch in der Mitte lag Festus’ Kopf, noch immer zerbeult und von seinem letzten Absturz in Omaha versengt.
Leo ging mit einem bitteren Geschmack im Mund zu ihm und streichelte die Stirn des Drachen. »Tut mir leid, Festus. Aber ich werde dich nicht vergessen.«
Jason legte Leo die Hand auf die Schulter. »Hephaistos hat ihn für dich hergebracht?«
Leo nickte.
»Aber du kannst ihn nicht reparieren«, vermutete Jason.
»Keine Chance«, sagte Leo. »Aber den Kopf werde ich wiederverwenden. Festus kommt mit uns.«
Piper trat zu ihnen und runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
Ehe Leo antworten konnte, rief Nyssa: »Seht euch das an!«
Sie stand an einem Arbeitstisch und blätterte in einem Skizzenblock mit Diagrammen für Hunderte von Maschinen und Waffen.
»So was hab ich noch nie gesehen«, sagte Nyssa. »Hier gibt es noch mehr umwerfende Ideen als in der Werkstatt des Dädalus. Man würde ein Jahrhundert brauchen, um sie alle nachzubauen.«
»Wer hat das hier eingerichtet?«, fragte Jake Mason. »Und warum?«
Chiron blieb stumm, und Leo konzentrierte sich auf die Wandkarte, die er bei seinem ersten Besuch gesehen hatte. Sie zeigte das Camp Half-Blood mit einer Reihe von Dreiruderern im Sound, Katapulten auf den Hügeln um das Tal und eingezeichneten Fallen, Schützengräben und Hinterhalten.
»Dies ist eine Kommandozentrale für einen Krieg«, sagte er. »Dieses Camp ist einmal angegriffen worden, oder?«
»Im Titanenkrieg?«, fragte Piper.
Nyssa schüttelte den Kopf. »Nein. Und diese Karte sieht ziemlich alt aus. Das Datum … heißt das 1864?«
Alle drehten sich zu Chiron um.
Der Schwanz des Zentauren schlug nervös hin und her. »Das Camp ist oft angegriffen worden«, gab er zu. »Diese Karte stammt aus dem letzten Bürgerkrieg.«
Offenbar war Leo nicht der Einzige, der verwirrt war. Die anderen Hephaistos-Kinder wechselten Blicke und runzelten die Stirn.
»Bürgerkrieg …«, sagte Piper. »Meinen Sie den Amerikanischen Bürgerkrieg vor hundertfünfzig Jahren?«
»Ja und nein«, sagte Chiron. »Die beiden Konflikte – von Sterblichen und Halbgöttern – entsprachen einander, wie das in der abendländischen Geschichte meistens der Fall ist. Ihr könnt euch jeden Bürgerkrieg und jede Revolution seit dem Fall Roms ansehen und immer haben zum selben Zeitpunkt auch Halbgötter gegeneinander gekämpft. Aber dieser Bürgerkrieg war besonders schrecklich. Für die Sterblichen in den USA ist er noch immer der blutigste Konflikt aller Zeiten – mit höheren Verlusten als beide Weltkriege zusammen. Für Halbgötter war er ebenso vernichtend. Schon damals war dieses Tal hier Camp Half-Blood. In diesen Wäldern gab es eine grauenhafte Schlacht, die Tage dauerte und bei der es auf beiden Seiten zu entsetzlichen Verlusten kam.«
»Beide Seiten«, sagte Leo. »Sie meinen, das Camp war gespalten?«
»Nein«, meldete sich Jason zu Wort. »Er redet von zwei verschiedenen Gruppen. Camp Half-Blood stand im Krieg auf der einen Seite.«
Leo war nicht sicher, ob er eine Antwort wollte, aber trotzdem fragte er: »Und wer waren die anderen?«
Chiron schaute zu dem zerfetzten Banner mit der Aufschrift Bunker 9 hoch, als ob er sich an den Tag erinnerte, an dem das Banner gehisst worden war.
»Die Antwort ist gefährlich«, sagte er mit warnender Stimme. »Ich habe beim Fluss Styx geschworen, niemals darüber zu sprechen. Nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg waren die Götter so entsetzt darüber, welchen Tribut der Krieg von ihren Kindern gefordert hatte, dass sie schworen, so etwas niemals wieder geschehen zu lassen. Die beiden Gruppen wurden getrennt. Die Götter nahmen ihre ganze Willenskraft zu Hilfe, sie webten den Nebel, so fest sie nur konnten, um sicher zu sein, dass die Feinde sich nicht aneinander erinnern würden und sich bei ihren Einsätzen niemals begegnen würden, so dass Blutvergießen vermieden werden könnte. Diese Karte stammt aus den letzten düsteren Tagen des Jahres 1864, als die beiden Gruppen zum letzten Mal gegeneinander gekämpft haben. Seither ist es mehrere Male nur um Haaresbreite gut gegangen. Die Jahre nach 1960 waren besonders kritisch. Aber wir haben einen weiteren Bürgerkrieg vermeiden können – bisher jedenfalls. Wie Leo richtig angenommen hat, war dieser Bunker die Kommandozentrale für die Hephaistos-Hütte. Im vergangenen Jahrhundert wurde er einige Male wieder geöffnet, meistens als Versteck in sehr unruhigen Zeiten. Aber es ist gefährlich, herzukommen. Dabei werden alte Erinnerungen aufgewühlt, alte Fehden zum Leben erweckt. Nicht einmal, als im letzten Jahr der Krieg gegen die Titanen drohte, hielt ich es für sinnvoll, das Risiko einzugehen und den Bunker zu nutzen.«