Jason hatte gehofft, dass Thalia auftauchen würde. Das hatte sie schließlich versprochen – aber sie war nicht zu sehen. Chiron hatte ihm gesagt, er solle sich deshalb keine Sorgen machen. Thalia wurde oft aufgehalten, weil sie Monster bekämpfen oder Erledigungen für Artemis übernehmen musste, und vermutlich würde sie bald eintreffen. Aber Jason machte sich trotzdem Sorgen.
Rachel Dare, das Orakel, saß neben Chiron am Kopfende. Sie trug ihre Schuluniform von der Clarion Academy, was leicht deplatziert wirkte, aber sie lächelte Jason an.
Annabeth sah nicht so entspannt aus. Sie trug Rüstung über ihrer Campkleidung, hatte das Messer am Gürtel hängen und ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Als Jason hereinkam, starrte sie ihn erwartungsvoll an, als wolle sie ihm durch bloße Willenskraft Informationen entlocken.
»Lasst uns anfangen«, sagte Chiron. »Lou Ellen, bitte gib Miranda ihre Nase zurück. Travis, wenn du bitte den brennenden Pingpongball löschen könntest, und Butch, ich glaube, zwanzig Bleistifte sind für jedes menschliche Nasenloch zu viel. Danke. Also, wie ihr sehen könnt, sind Jason, Piper und Leo erfolgreich zurückgekehrt … mehr oder weniger. Einige von euch haben Teile ihrer Geschichte gehört, aber sie können das jetzt vervollständigen.«
Alle sahen Jason an. Er räusperte sich und begann seine Geschichte zu erzählen. Piper und Leo schalteten sich ab und zu ein und lieferten Einzelheiten, die er vergessen hatte.
Es dauerte nur einige Minuten, aber ihm kam es viel länger vor, weil alle ihn beobachteten. Das Schwiegen war drückend, und daran, dass so viele ADHD-Halbgötter so lange still sitzenblieben, konnte Jason erkennen, dass die Geschichte sich ganz schön wild anhörte. Er endete mit Heras Besuch unmittelbar vor dem Treffen.
»Hera war also wirklich hier«, sagte Annabeth. »Und hat mit dir geredet.«
Jason nickte. »Hör mal, ich sage ja nicht, dass ich ihr vertraue …«
»Das ist auch besser so«, sagte Annabeth.
»… aber diese Sache mit der anderen Gruppe von Halbgöttern hat sie sich nicht aus den Fingern gesogen. Ich komme von dort.«
»Römer.« Clarisse warf Seymour einen Hundekeks zu. »Wir sollen dir also glauben, dass es noch ein Camp für Halbgötter gibt, aber dass die sich an die römischen Erscheinungsformen der Götter halten. Ohne dass wir von denen je auch nur gehört haben.«
Piper beugte sich vor. »Die Götter halten diese beiden Gruppen bewusst getrennt, denn immer, wenn sie sich begegnen, versuchen sie, sich gegenseitig umzubringen.«
»Das ist plausibel«, sagte Clarisse. »Aber warum sind wir uns bei unseren Aufträgen nie über den Weg gelaufen?«
»Seid ihr doch«, sagte Chiron traurig. »Sogar oft. Es ist jedes Mal eine Tragödie und die Götter geben sich immer alle Mühe, die Erinnerungen der Beteiligten auszulöschen. Die Rivalität reicht zurück bis zum Trojanischen Krieg, Clarisse. Die Griechen überfielen Troja und machten es dem Erdboden gleich. Der trojanische Held Aeneas konnte entkommen und gelangte nach Italien, wo er die Sippe gründete, die später dann Rom erbaute. Die Römer wurden immer mächtiger, sie verehrten dieselben Götter, aber unter anderen Namen und mit ein wenig anderen Persönlichkeiten.«
»Kriegerischer«, sagte Jason. »Weniger zerstritten. Denen ging es mehr um Expansion, Eroberung und Disziplin.«
»Uääähhh«, warf Travis ein.
Einige der anderen sahen ebenso unzufrieden aus, während Clarisse mit den Schultern zuckte, als ob ihr das nur recht wäre.
Annabeth spielte auf dem Tisch mit ihrem Messer. »Und die Römer hassten die Griechen. Sie rächten sich, indem sie die griechischen Inseln eroberten und dem Römischen Reich einverleibten.«
»Sie haben sie nicht direkt gehasst«, sagte Jason. »Die Römer bewunderten die griechische Kultur und waren ein wenig neidisch darauf. Die Griechen ihrerseits hielten die Römer für Barbaren, respektierten aber ihre militärische Macht. Und in der Römerzeit fingen die Halbgötter dann an, sich zu spalten – entweder griechisch oder römisch.«
»Und seither war es immer so«, vermutete Annabeth. »Aber das ist doch Wahnsinn. Chiron, wo waren die Römer während des Kriegs gegen die Titanen? Wollten die nicht ein bisschen helfen?«
Chiron zupfte sich am Bart. »Sie haben geholfen, Annabeth. Als du und Percy die Schlacht geleitet habt, die Manhattan retten sollte, was glaubst du denn, wer den Othrys erobert hat, den Sitz der Titanen in Kalifornien?«
»Moment«, sagte Travis. »Sie haben doch gesagt, der Othrys sei einfach zerfallen, als wir Kronos geschlagen hatten.«
»Nein«, sagte Jason. Er erinnerte sich an kurze Szenen aus einer Schlacht – einen Riesen mit bestirnter Rüstung und einem mit Widderhörnern geschmückten Helm. Er erinnerte sich an seine Armee aus Halbgöttern, die den Mount Tam hochstieg und sich einen Weg durch Horden aus Schlangenmonstern kämpfen musste.
»Der Othrys ist nicht einfach zerfallen. Wir haben ihren Palast zerstört. Und ich selbst habe den Titanen Krios besiegt.«
Annabeths Augen waren so stürmisch wie ein Ventus. Jason konnte fast sehen, wie ihre Gedanken sich bewegten und die einzelnen Stücke zusammenfügten. »Die Bay Area. Uns ist immer erzählt worden, wir sollten einen Bogen darum machen, weil dort der Othrys liegt. Aber das war nicht der einzige Grund, oder? Dieses römische Lager – das muss irgendwo in der Nähe von San Francisco sein. Ich wette, es wurde dort angelegt, um das Gebiet der Titanen im Auge zu behalten. Aber wo genau ist es?«
Chiron rutschte in seinem Rollstuhl hin und her. »Das kann ich dir nicht sagen. Diese Information ist nicht einmal mir jemals anvertraut worden. Meine dortige Kollegin, Lupa, ist nicht gerade eine, die gern teilt. Und Jasons Erinnerung ist weggesengt worden.«
»Das Camp ist von Magie dicht verhüllt«, sagte Jason. »Und wird streng bewacht. Wir könnten jahrelang suchen und würden es doch nicht finden.«
Rachel Dare verflocht ihre Finger ineinander. Sie war die Einzige im Zimmer, die dieses Gespräch nicht nervös zu machen schien. »Aber ihr werdet es versuchen, oder? Ihr werdet Leos Schiff bauen, die Argo II. Und ehe ihr nach Griechenland aufbrecht, werdet ihr zum Römerlager segeln. Ihr werdet ihre Hilfe brauchen, um den Riesen gegenüberzutreten.«
»Keine gute Idee«, sagte Clarisse warnend. »Wenn diese Römer ein Kriegsschiff kommen sehen, werden sie glauben, wir wollten sie angreifen.«
»Da hast du sicher Recht«, stimmte Jason zu. »Aber wir müssen es versuchen. Ich bin hergeschickt worden, damit ich Camp Half-Blood kennenlerne und euch klarmache, dass die beiden Lager nicht verfeindet sein müssen. Als Friedensstifter.«
»Hmmmm«, sagte Rachel. »Weil Hera davon überzeugt ist, dass wir beide Camps brauchen, um den Krieg gegen die Riesen zu gewinnen. Sieben Helden des Olymp: ein paar Griechen und ein paar Römer.«
Annabeth nickte. »Deine Große Weissagung – wie war noch die letzte Zeile?«
»Und der Feind trägt Waffen zu des Todes Gemäuer.«
»Gaia hat die Pforten zu des Todes Gemäuer geöffnet«, sagte Annabeth. »Sie lässt die übelsten Schurken aus der Unterwelt frei, um gegen uns zu kämpfen. Medea, Midas – und es werden noch mehr kommen, da bin ich mir sicher. Vielleicht bedeutet diese Zeile, dass die römischen und griechischen Halbgötter sich zusammentun und die Mauern des Todes wieder schließen werden.«