Piper hoffte, dass sie DAS POSTER hier nicht sehen würde. Der Film lag jetzt fast ein Jahr zurück und sie hoffte, dass inzwischen alle die alten Werbebilder abgenommen und etwas Neueres aufgehängt hätten. Aber sie hatte Pech. An der Wand beim Kleiderschank, in der Mitte einer Collage aus berühmten Herzensbrechern, entdeckte sie noch eins.
Der Filmtitel schrie: KÖNIG VON SPARTA. Darunter war der Hauptdarsteller zu sehen – eine Dreiviertelaufnahme von barbrüstigem bronzenen Fleisch, mit klar gezeichneten Rippen und Waschbrettbauch. Er trug nur einen griechischen Lendenschurz und einen lila Umhang und hatte ein Schwert in der Hand. Er sah aus wie gerade mit Öl eingerieben, seine kurzen schwarzen Haare glänzten und Schweißbäche liefen über sein markiges Gesicht, während die traurigen dunklen Augen in die Kamera schauten, als wollten sie sagen: Ich werde eure Männer töten und eure Frauen stehlen. Haha!
Es war das peinlichste Plakat aller Zeiten. Piper und ihr Dad hatten herzlich darüber gelacht, als sie es zum ersten Mal gesehen hatten. Der Film hatte ein Vermögen eingespielt. Das Poster war überall zu sehen gewesen. Piper hatte ihm weder in der Schule noch auf der Straße, ja nicht einmal im Internet entkommen können. Es wurde DAS POSTER, das Peinlichste, was es in ihrem Leben gab. Und ja, es war ein Bild ihres Dad.
Sie wandte sich ab, damit niemand dachte, sie starre es an. Vielleicht würde sie es unbemerkt von der Wand reißen können, wenn alle anderen zum Frühstück gingen.
Sie versuchte, beschäftigt auszusehen, aber sie hatte ja keine Kleider, die sie zusammenfalten konnte. Sie strich ihr Bett glatt und merkte, dass dort noch die Decke lag, die Jason in der vergangenen Nacht um ihre Schultern gelegt hatte. Sie hob sie hoch und presste sie an ihr Gesicht. Die Decke roch nach verbranntem Holz, aber leider nicht nach Jason. Er war der einzige Mensch, der wirklich nett zu ihr gewesen war, nachdem sie anerkannt worden war, als sei es ihm wichtig, wie ihr zu Mute war, und das nicht nur wegen ihrer blöden neuen Klamotten. Himmel, sie hätte ihn so gern geküsst, aber er schien sich so unwohl zu fühlen, schien sich fast vor ihr zu fürchten. Und sie konnte ihm da eigentlich keinen Vorwurf machen. Sie war schließlich glühend rosa gewesen.
»’tschuldigung«, sagte eine Stimme zu ihren Füßen. Mitchell, der Mann vom Mülldienst, kroch auf allen vieren herum und las unter den Betten Schokoladenpapier und zerknüllte Zettel auf. Offenbar waren die Aphrodite-Leute doch nicht die totalen Ordnungsfreaks.
Sie machte ihm Platz. »Wieso ist Drew so wütend auf dich?«
Er schaute hinüber zur Badezimmertür, als wolle er sich davon überzeugen, dass die noch geschlossen war. »Als du gestern Abend anerkannt worden bist, habe ich gesagt, dass du vielleicht gar nicht so schlecht bist.«
Das war kein umwerfendes Kompliment, aber Piper war trotzdem verblüfft. Ein Aphrodite-Kind hatte sich für sie eingesetzt?
»Danke«, sagte sie.
Mitchell zuckte mit den Schultern. »Na ja. Du siehst ja, was mir das gebracht hat. Was soll’s, willkommen in Hütte 10.«
Ein Mädchen mit blonden Zöpfchen und einer Zahnklammer kam mit einem Stapel Kleidern im Arm angerannt. Sie schaute sich verstohlen um, als übergäbe sie Atomabfall.
»Das ist für dich«, flüsterte sie.
»Piper, das ist Lacy«, sagte Mitchell, der noch immer auf dem Boden herumkroch.
»Hallo«, sagte Lacy atemlos. »Du kannst dich durchaus umziehen. Der Segen hindert dich nicht daran. Das hier ist nur, äh, ein Rucksack, ein bisschen Proviant, Ambrosia und Nektar für Notfälle, eine Jeans, ein paar T-Shirts und eine warme Jacke. Die Stiefel sind vielleicht ein bisschen eng, aber – na ja – wir haben gesammelt. Viel Glück bei deinem Auftrag.«
Lacy ließ alles auf das Bett fallen und wollte schon wieder wegrennen, aber Piper fasste ihren Arm. »Moment mal. Ich werde mich doch wenigstens bedanken dürfen. Warum hast du es so eilig?«
Lacy schien außer sich vor Nervosität. »Na ja …«
»Drew könnte es erfahren«, erklärte Mitchell.
»Und dann muss ich vielleicht die Schandschuhe tragen«, sagte Lacy verängstigt.
»Die was?«, fragte Piper.
Lacy und Mitchell zeigten auf ein schwarzes Regal, das in einer Zimmerecke angebracht war, wie ein Altar. Darauf stand ein scheußliches Paar Gesundheitsschuhe, weiß mit dicken Sohlen.
»Einmal musste ich sie eine Woche lang tragen«, jammerte Lacy. »Sie passen einfach zu nichts.«
»Und es gibt noch schlimmere Strafen«, sagte Mitchell warnend. »Drew kann Charme-Sprech, verstehst du? Nicht viele Aphrodite-Kinder besitzen diese Fähigkeit, aber wenn sie sich Mühe gibt, kann sie dich dazu bringen, ganz schön peinliche Dinge zu tun. Piper, du bist die Erste seit langer Zeit, die ihr widerstehen kann.«
»Charme-Sprech …« Piper dachte an den vergangenen Abend, daran, wie die Menge am Lagerfeuer zwischen Drews Meinung und ihrer eigenen hin-und hergeschwankt war. »Du meinst, sie kann Leute dazu überreden, etwas zu tun? Oder ihr … etwas zu geben, ein Auto zum Beispiel?«
»He, bring Drew nicht auf blöde Ideen!«, keuchte Lacy.
»Aber ja«, sagte Mitchell. »Das könnte sie.«
»Deshalb ist sie also Hüttenälteste«, sagte Piper. »Sie hat euch alle überredet.«
Mitchell fischte ein ekliges Stück Kaugummi unter Pipers Bett hervor. »Nö, sie hat den Posten geerbt, als Silena Beauregard im Krieg ums Leben gekommen ist. Drew war die Zweitälteste. Die Älteste oder der Älteste bekommt den Job automatisch, falls niemand mit mehr Jahren oder mehr erfolgreichen Einsätzen sie herausfordert. Dann gibt es ein Duell, aber das passiert so gut wie nie. Jedenfalls sitzen wir seit August hier mit Drew. Sie wollte einige, äh, Veränderungen vornehmen, wie die Hütte geführt wird.«
»Genau, das wollte ich!« Plötzlich stand Drew da und lehnte am Bett. Lacy quiekte wie ein Meerschweinchen und wollte weglaufen, aber Drew streckte einen Arm aus und hielt sie fest. Sie schaute auf Mitchell hinab. »Ich glaube, du hast da was vergessen, Süßer. Sieh lieber noch mal nach.«
Piper schaute zum Badezimmer hinüber und sah, dass Drew den Inhalt des Mülleimers im Badezimmer – und einiges davon war wirklich widerwärtig – auf dem Fußboden verteilt hatte.
Mitchell hockte jetzt auf dem Boden. Er starrte Drew an, als würde er gleich auf sie losgehen (und Piper hätte Eintritt bezahlt, um das zu sehen). Aber dann fauchte er: »Na gut.«
Drew lächelte. »Siehst du, Piper, Schatz, wir haben hier eine gute Hütte. Eine gute Familie. Silena Beauregard dagegen … die sollte dir ein warnendes Beispiel sein. Sie hat im Titanenkrieg heimlich Informationen an Kronos weitergegeben, sie hat dem Feind geholfen!«
Drew lächelte hold und unschuldig, mit ihrem Glitzer-Make-up und ihrem frisch geföhnten Haar, das glänzte und nach Muskat roch. Sie sah aus wie ein beliebter Teenie von irgendeiner Highschool.
Dem Feind geholfen.
»In den anderen Hütten wird nie darüber geredet«, sagte Drew jetzt vertraulich. »Für die war Silena Beauregard eine Heldin.«
»Sie hat ihr Leben geopfert, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen«, knurrte Mitchell. »Sie war wirklich eine Heldin.«
»Mmm-hmm«, sagte Drew. »Noch ein Tag Mülldienst, Mitchell. Aber wie dem auch sei, Silena hatte vergessen, worum es in dieser Hütte geht. Wir bringen die richtig guten Paare im Camp zusammen. Dann sorgen wir dafür, dass sie Schluss machen, und fangen wieder von vorn an. Das macht total Spaß! Wir mischen uns nicht in anderen Kram ein wie Kriege und Aufträge. Ich hatte garantiert noch keinen Auftrag. Das ist doch pure Zeitverschwendung.«
Lacy hob nervös die Hand. »Aber gestern Abend hast du doch gesagt, du wolltest mit auf den …«