Er wünschte, er könnte Festus reaktivieren. Er brauchte Rückendeckung. Aber das würde mehrere Minuten dauern, falls er den Knopf überhaupt erreichen konnte, während ihm zwei Irre mit lila Flügeln im Weg standen.
»Jetzt kaputt machen?«, fragte Cal seinen Bruder.
Zethes nickte. »Leider, ich glaube …«
»Nein«, widersprach Jason. Er klang durchaus gelassen, aber Leo nahm an, dass er nur zwei Sekunden davon entfernt war, seine Münze zu werfen und den vollen Gladiatorenmodus einzuschalten. »Leo ist nur ein Sohn des Hephaistos. Er ist keine Gefahr. Piper ist eine Tochter der Aphrodite. Ich bin ein Sohn des Zeus. Wir sind in friedlicher …«
Jasons Stimme versagte, denn beide Boreaden starrten ihn plötzlich an.
»Was hast du gesagt?«, verlangte Zethes zu wissen. »Du bist ein Sohn des Zeus?«
»Äh … ja«, sagte Jason. »Das ist doch gut, oder? Ich heiße Jason.«
Cal sah so überrascht aus, dass ihm fast das Schwert aus der Hand gefallen wäre. »Jason geht nicht«, sagte er. »Sieht nicht so aus.«
Zethes trat vor und musterte Jasons Gesicht aus zusammengekniffenen Augen. »Nein, unser Jason ist das nicht. Unser Jason war eleganter. Nicht ganz so wie ich – aber doch elegant. Außerdem ist unser Jason seit Jahrtausenden tot.«
»Moment«, sagte Jason. »Euer Jason? Du meinst den ursprünglichen Jason? Den Typen mit dem Goldenen Vlies?«
»Natürlich«, sagte Zethes. »Wir waren seine Mannschaftskameraden auf seinem Schiff, der Argo, in den alten Zeiten, als wir noch sterbliche Halbgötter waren. Dann sind wir unsterblich geworden, um unserem Vater zu dienen, damit ich immer so gut aussehen und mein blöder Bruder sich mit Pizza und Hockey amüsieren kann.«
»Hockey«, sagte Cal strahlend.
»Aber Jason – unser Jason – ist eines natürlichen Todes gestorben«, sagte Zethes. »Also kannst du nicht er sein.«
»Bin ich auch nicht«, sagte Jason.
»Also kaputt?«, fragte Cal. Dieses Gespräch war eindeutig viel zu anstrengend für seine zwei Gehirnzellen.
»Nein«, sagte Zethes bedauernd. »Wenn er ein Sohn des Zeus ist, könnte er der sein, auf den wir warten.«
»Auf den ihr wartet?«, fragte Jason. »Meinst du, auf gute Weise, damit ihr ihn mit wunderbaren Geschenken überhäufen könnt? Oder auf schlechte Weise, damit er Ärger kriegt?«
Eine Mädchenstimme sagte: »Das hängt vom Willen meines Vaters ab.«
Leo schaute die Treppe hoch. Sein Herz wäre fast stehengeblieben. Oben stand ein Mädchen in einem weißen Seidenkleid. Ihre Haut war unnatürlich blass, wie Schnee, aber sie hatte eine üppige schwarze Mähne und ihre Augen waren kaffeebraun. Sie schaute Leo ausdruckslos an, kein Lächeln, keine Freundlichkeit. Aber das spielte keine Rolle. Leo war verliebt. Sie war das umwerfendste Mädchen, das er je gesehen hatte.
Dann sah sie Jason und Piper an und schien die Lage sofort zu erfassen.
»Vater wird den sprechen wollen, der sich Jason nennt«, sagte das Mädchen.
»Dann ist er es wirklich?«, fragte Zethes aufgeregt.
»Das werden wir sehen«, sagte das Mädchen. »Zethes, führe unsere Gäste ins Haus.«
Leo packte den Griff seines bronzenen Drachenkoffers. Er wusste nicht so recht, wie er ihn die Treppen hochschleppen sollte, aber er musste unbedingt zu diesem Mädchen und ihr einige wichtige Fragen stellen – zum Beispiel nach ihrer E-Mail-Adresse und ihrer Handynummer.
Doch ehe er einen Schritt machen konnte, brachte sie ihn mit einem Blick zum Erstarren. Zwar nicht gerade zu Eis, aber viel fehlte nicht.
»Du nicht, Leo Valdez«, sagte sie.
Ganz vage fragte sich Leo, woher sie seinen Namen wusste, aber vor allem konzentrierte er sich jetzt darauf, wie enttäuscht er war.
»Warum nicht?« Vermutlich klang er wie ein quengeliges Kindergartenkind, aber er konnte es nicht ändern.
»Du kannst meinem Vater nicht gegenübertreten«, sagte das Mädchen »Feuer und Eis – das ist nicht weise.«
»Wir gehen zusammen«, erklärte Jason und legte die Hand auf Leos Schulter. »Oder gar nicht.«
Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken, als sei sie nicht daran gewöhnt, dass jemand ihre Befehle missachtete. »Ihm wird nichts passieren, Jason Grace, solange du keinen Ärger machst. Calais, du behältst Leo Valdez hier. Pass auf ihn auf, aber bring ihn nicht um.«
Cal machte einen Schmollmund. »Nicht mal ein bisschen?«
»Nein«, erklärte das Mädchen. »Und pass auf seinen interessanten Koffer auf, bis Vater sein Urteil spricht.«
Jason und Piper sahen Leo an und ihre Gesichter stellten ihm die stumme Frage: Was sollen wir tun?
Leo fühlte eine Welle der Dankbarkeit. Sie waren bereit, für ihn zu kämpfen. Sie würden ihn nicht mit dem Hockeyochsen allein lassen. Ein Teil von ihm wollte loslegen und sehen, was er mit seinem neuen Werkzeuggürtel anstellen konnte, vielleicht sogar einen oder zwei Feuerbälle heraufbeschwören, um diese Bude anzuwärmen. Aber diese Boreaden machten ihm Angst. Und dieses fantastische Mädchen machte ihm noch größere Angst, auch wenn er noch immer ihre Nummer wollte.
»Ist schon gut, Leute«, sagte er. »Hat keinen Sinn, Ärger zu machen, wenn es nicht sein muss. Geht erst mal rein.«
»Hört auf euren Freund«, sagte die bleiche Schönheit. »Leo Valdez wird hier nichts passieren. Ich wünschte, ich könnte das auch von dir sagen, Sohn des Zeus. Und jetzt kommt, König Boreas wartet schon.«
XIX
Jason
Jason verließ Leo nur ungern, hatte aber inzwischen den Verdacht, es könnte die ungefährlichste Alternative hier in diesem Haus sein, sich die Zeit mit Cal, dem Hockeyochsen, zu vertreiben.
Als sie die Treppe hochstiegen, blieb Zethes mit gezogenem Schwert hinter ihnen. Der Typ sah vielleicht aus wie ein Überbleibsel aus der Disco-Ära, aber sein Schwert war überhaupt nicht komisch. Jason stellte sich vor, dass ihn ein einziger Hieb vermutlich in ein Eis am Stiel verwandeln würde.
Und dann war da noch die Eisprinzessin. Ab und zu drehte sie sich um und lächelte Jason an, aber ihr Gesicht strahlte keinerlei Wärme aus. Sie musterte Jason wie ein besonders interessantes wissenschaftliches Objekt – eins, das sie möglichst bald sezieren wollte.
Wenn das die Kinder des Boreas waren, dann hatte Jason absolut keine Lust, den Papa kennenzulernen. Annabeth hatte Boreas als den umgänglichsten der Windgötter bezeichnet. Das bedeutete offenbar, dass er Helden nicht ganz so schnell meuchelte wie die anderen.
Jason fürchtete, seine Freunde in eine Falle gelockt zu haben. Wenn hier alles schiefging, dann war er nicht sicher, ob er sie lebend wieder hinausbrachte. Ohne darüber nachzudenken, nahm er zur Beruhigung Pipers Hand.
Sie hob die Augenbrauen, ließ ihn aber nicht los.
»Es wird schon gut gehen«, sagte sie zuversichtlich. »Wir sagen ihm nur mal Guten Tag.«
Oben auf der Treppe schaute die Eisprinzessin sich um und sah, dass sie einander an den Händen hielten. Ihr Lächeln verschwand. Plötzlich wurde Jasons Hand in Pipers eiskalt – brennend kalt. Er ließ los und seine Finger dampften vor Frost, wie Pipers auch.
»Wärme ist hier nicht zu empfehlen«, warnte die Prinzessin. »Vor allem dann nicht, wenn ich eure größte Chance bin, am Leben zu bleiben. Bitte, hier lang.«
Piper runzelte nervös die Stirn, als wollte sie sagen: Was sollte das denn nun wieder?
Jason wusste keine Antwort. Zethes stieß ihm sein Eiszapfenschwert in den Rücken und sie folgten der Prinzessin durch eine riesige Halle, die mit frostigen Wandteppichen ausgehängt war.
Eiskalte Winde umwehten sie und Jasons Gedanken bewegten sich fast ebenso schnell. Er hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt, als sie auf dem Drachen nach Norden geflogen waren, aber er war noch immer genauso verwirrt wie zuvor.
Thalias Foto steckte noch immer in seiner Tasche, aber er brauchte es nicht mehr anzusehen. Ihr Bild hatte sich in sein Gehirn eingebrannt. Es war schlimm genug, dass er sich nicht an seine Vergangenheit erinnern konnte, aber zu wissen, dass er irgendwo eine Schwester hatte, die vielleicht die Antworten kannte, er sie aber nicht finden konnte – deswegen könnte er die Wände hochgehen.