Auf dem Foto sah Thalia ihm überhaupt nicht ähnlich. Beide hatten blaue Augen, aber das war alles. Ihre Haare waren schwarz. Ihr Teint war eher mediterran. Ihre Gesichtszüge waren schärfer – wie die eines Habichts.
Und doch sah Thalia einfach vertraut aus. Hera hatte ihm gerade genug Erinnerung gelassen, um sicher zu sein, dass Thalia seine Schwester war. Aber Annabeth war total überrascht gewesen, als er es ihr gesagt hatte, so als hätte sie nie von Thalias Bruder gehört. Wusste Thalia denn überhaupt von ihm? Auf welche Weise waren sie voneinander getrennt worden?
Hera hatte diese Erinnerungen geraubt. Sie hatte alles aus Jasons Vergangenheit gestohlen, hatte ihn in ein neues Leben geworfen, und jetzt erwartete sie, dass er sie aus irgendeinem Gefängnis befreite, um das Gestohlene zurückzubekommen. Jason war darüber so wütend, er hätte weglaufen mögen. Sollte Hera in ihrem Käfig doch vermodern. Aber das ging nicht. Er saß fest. Er musste mehr wissen, und das machte ihn nur noch wütender.
»He.« Piper berührte seinen Arm. »Bist du noch da?«
»Ja … ja, tut mir leid.«
Er war dankbar für Piper. Er brauchte eine Freundin und war froh darüber, dass der Segen der Aphrodite sich jetzt verlor. Das Make-up verblich. Ihre Haare sahen langsam wieder aus wie vorher, ungleichmäßig geschnitten und mit den kleinen Zöpfen an den Seiten. Sie sah damit echter aus und in Jasons Augen auch schöner.
Er war jetzt sicher, dass sie sich vor den Ereignissen am Grand Canyon nicht gekannt hatten. Ihre Beziehung war einfach ein Trick des Nebels in Pipers Gedanken. Aber je mehr Zeit er mit ihr verbrachte, umso mehr wünschte er sich, es wäre wirklich so.
Aufhören, mahnte er sich. Es war nicht fair Piper gegenüber, so zu denken. Jason hatte keine Ahnung, was ihn in seinem alten Leben erwartete – oder wer. Aber er war ziemlich sicher, dass seine Vergangenheit nichts mit Camp Half-Blood zu tun hatte. Wer konnte schon wissen, was nach ihrem Einsatz passieren würde. Gesetzt den Fall, dass sie überhaupt überlebten.
Am Ende der Halle stießen sie auf Türen aus Eichenholz, in die eine Karte der Welt eingeschnitzt war. In jeder Ecke war ein pustendes bärtiges Männergesicht zu sehen. Jason war sich ziemlich sicher, dass er schon einmal solche Karten gesehen hatte. Aber hier waren alle Windmänner der Winter und bliesen aus jeder Ecke Eis und Schnee in die Welt.
Die Prinzessin drehte sich um. Ihre braunen Augen funkelten und Jason kam sich vor wie ein Weihnachtsgeschenk, das sie gern aufmachen wollte.
»Das ist der Thronsaal«, sagte sie. »Benimm dich, so gut du nur kannst, Jason Grace. Mein Vater kann … sehr kühl sein. Ich werde für dich übersetzen und versuchen, ihn zu überreden, dich anzuhören. Ich hoffe, er wird dich verschonen. Wir könnten so viel Spaß miteinander haben.«
Jason ging davon aus, dass dieses Mädchen unter Spaß nicht dasselbe verstand wie er.
»Äh, na gut«, brachte er heraus. »Aber wirklich, wir wollten nur kurz reden. Wir müssen gleich weiter.«
Das Mädchen lächelte. »Ich liebe Helden. Diese selige Ahnungslosigkeit.«
Piper hatte die Hand auf ihrem Dolch liegen. »Na, dann klär uns doch mal auf. Du sagst, du wirst für uns übersetzen, aber wir wissen nicht einmal, wer du bist. Wie heißt du eigentlich?«
Das Mädchen schnaubte verächtlich. »Ich sollte wohl nicht überrascht sein, dass ihr mich nicht erkennt. Nicht einmal in den alten Zeiten haben die Griechen mich erkannt. Ihre Inseln waren zu warm, zu weit von meinem Herrschaftsbereich entfernt. Ich bin Chione, die Tochter des Boreas und die Göttin des Schnees.«
Sie bewegte den Finger in der Luft und ein Miniaturblizzard wirbelte um sie herum – große Schneeflocken, weich wie Watte.
»Und jetzt kommt«, sagte Chione. Die Eichentüren öffneten sich und kaltes blaues Licht sickerte aus dem Saal. »Ich hoffe, ihr werdet euer kleines Gespräch überleben.«
XX
Jason
Es war ja in der Halle schon kalt gewesen, aber der Thronsaal war wie ein Kühlraum in einem Schlachthof.
Nebel hing in der Luft. Jason zitterte und sein Atem dampfte. An den Wänden zeigten lila Bildteppiche Szenen aus verschneiten Wäldern, kahlen Gebirgen und Gletschern. Hoch oben pulsierten Bänder aus farbigem Licht unter der Decke entlang – das Nordlicht. Der Boden war von einer Schneeschicht bedeckt, deshalb musste Jason vorsichtig gehen. Überall im Saal standen lebensgroße Eisskulpturen: Krieger, einige in griechischer Rüstung, andere aus dem Mittelalter, noch andere in modernen Tarnanzügen. Sie waren alle in unterschiedlichen Angriffspositionen erstarrt, die Schwerter erhoben, die Gewehre im Anschlag.
Zumindest hielt Jason sie für Skulpturen. Dann versuchte er, zwischen zwei griechischen Schwertkämpfern hindurchzutreten, und sie bewegten sich in überraschendem Tempo, ihre Gelenke knackten und Eiskristalle stoben auf, als sie ihre Speere kreuzten, um Jason den Weg zu versperren.
Hinten in der Halle ertönte eine Männerstimme in einer Sprache, die wie Französisch klang. Der Saal war so lang und neblig, dass Jason das andere Ende nicht sehen konnte, aber egal, was der Mann gesagt haben mochte, die Eiswachen ließen ihre Speere sinken.
»Alles bestens«, sagte Chione. »Mein Vater hat ihnen befohlen, euch noch nicht sofort umzubringen.«
Zethes bohrte ihm sein Schwert in den Rücken. »Weiter, Jason Junior.«
»Bitte, nenn mich nicht so.«
»Mein Vater ist nicht gerade geduldig«, warnte Zethes. »Und die schöne Piper verliert leider zusehends ihre magische Frisur. Später kann ich ihr vielleicht etwas aus meinem großen Vorrat an Haarpflegemitteln leihen.«
»Danke«, murmelte Piper verärgert.
Sie gingen weiter und der Nebel teilte sich und zeigte einen Mann auf einem Thron aus Eis. Er war kräftig gebaut, trug einen eleganten weißen Anzug, der aus Schnee gewebt zu sein schien, und zu beiden Seiten entfalteten sich lila Flügel. Seine langen Haare und sein zottiger Bart hingen voller Eiszapfen, deshalb konnte Jason nicht sagen, ob seine Haare grau waren oder nur weiß vereist. Er hatte die Augenbrauen erhoben und sah wütend aus, aber seine Augen funkelten wärmer als die seiner Tochter – als könnte tief unter dem Dauerfrost doch ein Sinn für Humor versteckt sein. Das hoffte Jason zumindest.
»Bienvenu«, sagte der König. »Je suis Boreas le Roi. Et vous?«
Chione die Schneegöttin wollte schon antworten, aber Piper trat vor und machte einen Knicks.
»Votre Majesté«, sagte sie. »Je suis Piper McLean. Et c’est Jason, fils de Zeus.«
Der King lächelte angenehm überrascht. »Vous parlez français? Très bien.«
»Piper, du sprichst Französisch?«, fragte Jason.
Piper runzelte die Stirn. »Nein. Warum?«
»Du hast gerade Französisch gesprochen.«
Piper blinzelte. »Echt?«
Der König sagte wieder etwas und Piper nickte. »Oui, Votre Majesté.«
Der König lachte und klatschte in offenkundigem Entzücken in die Hände. Er sagte noch einige Sätze, dann wedelte er mit der Hand in Richtung seiner Tochter, wie um Chione zu verscheuchen.
Chione sah verärgert aus. »Der König sagt …«
»Er sagt, ich sei eine Tochter der Aphrodite«, fiel Piper ihr ins Wort. »Deshalb spreche ich natürlich Französisch, die Sprache der Liebe. Ich wusste das gar nicht. Seine Majestät sagt, Chione braucht nicht zu übersetzen.«
Hinter ihnen schnaubte Zethes und Chione warf ihm einen tödlichen Blick zu. Sie verneigte sich steif vor ihrem Vater und trat einen Schritt zurück.
Der König musterte Jason und der beschloss, das sei eine gute Gelegenheit für eine Verbeugung. »Eure Majestät, ich bin Jason Grace. Danke dafür, dass Ihr uns, äh, nicht umbringt. Darf ich fragen … warum spricht ein griechischer Gott Französisch?«
Piper hatte abermals einen Wortwechsel mit dem König.