»Er spricht die Sprache seines Gastlandes«, übersetzte sie dann. »Er sagt, das gilt für alle Götter. Die meisten sprechen Englisch, weil sie jetzt in den Vereinigten Staaten wohnen, aber Boreas hat sich immer im hohen Norden aufgehalten. Heutzutage fühlt er sich in Quebec am wohlsten, deshalb spricht er Französisch.«
»Spitze«, sagte Jason. Der König sagte noch etwas, und Piper erbleichte.
»Der König sagt …« Sie verstummte. »Er sagt …«
»Ach, lass mich das machen«, sagte Chione. »Mein Vater sagt, ihm sei befohlen worden, euch zu töten. Habe ich das noch nicht erwähnt?«
Jason erstarrte. Der König lächelte noch immer liebenswürdig, als habe er gerade eine großartige Nachricht überbracht.
»Uns zu töten?«, fragte Jason. »Warum?«
»Weil«, sagte der König auf Englisch, mit starkem französischen Akzent, »mein Herr Aelous das befohlen hat.«
Boreas erhob sich. Er stieg von seinem Thron und faltete die Flügel auf seinem Rücken zusammen. Als er näher kam, verneigten sich Chione und Zethes. Jason und Piper folgten ihrem Beispiel.
»Ich werde mich dazu herablassen, eure Sprache zu sprechen«, sagte Boreas. »Da Piper McLean mich in meiner geehrt hat. Toujours habe ich die Kinder der Aphrodite gern gemocht. Und was dich angeht, Jason Grace, so würde mein Herr Aeolus nicht von mir erwarten, dass ich einen Sohn des Zeus töte … ohne ihn erst anzuhören.«
Jasons goldene Münze schien in seiner Tasche schwer zu werden. Wenn er hier kämpfen müsste, stünden seine Chancen nicht gut. Zwei Sekunden dauerte es mindestens, um die Klinge auszufahren. Dann würde er einem Gott, zwei seiner Kinder und einer Armee aus gefriergetrockneten Kriegern gegenüberstehen.
»Aeolus ist der Herr der Winde, stimmt’s?«, fragte Jason. »Warum sollte der unseren Tod wollen?«
»Ihr seid Halbgötter«, sagte Boreas, als erklärte das alles. »Aeolus hat die Aufgabe, die Winde zu lenken, und die Halbgötter haben ihm immer viel Kopfschmerzen bereitet. Sie bitten ihn dauernd um Gefallen. Sie lassen die Winde los und verursachen Chaos. Aber die schlimmste Beleidigung war die Schlacht gegen Typhon im vergangenen Sommer …« Boreas winkte mit der Hand und eine Scheibe aus Eis, die wie ein Flachbildfernseher aussah, tauchte in der Luft auf. Bilder von einer Schlacht jagten darüber und ein in Sturmwolken gehüllter Riese erschien, der durch einen Fluss auf die Skyline von Manhattan zuwatete. Winzige leuchtende Gestalten – die Götter, nahm Jason an – umschwärmten ihn wie wütende Wespen und schlugen mit Blitz und Feuer auf das Monster ein. Endlich explodierte der Fluss zu einem riesigen Whirlpool und die rauchige Gestalt versank in den Wellen und verschwand.
»Der Sturmriese, Typhon«, erklärte Boreas. »Als die Götter ihn zum ersten Mal besiegt haben, vor Äonen, ist er nicht schweigend gestorben. Sein Tod hat ein Heer von Sturmgeistern freigesetzt – wilde Winde, die niemandem gehorchten. Aeolus musste sie alle jagen und in seiner Festung einsperren. Die anderen Götter haben ihm nicht geholfen. Sie haben für diese Unannehmlichkeiten nicht einmal um Verzeihung gebeten. Aeolus hat Jahrhunderte gebraucht, um alle Sturmgeister aufzuspüren, und das hat ihn natürlich geärgert. Dann, im vergangenen Sommer, wurde Typhon wieder besiegt …«
»Und sein Tod hat eine neue Welle von Venti freigesetzt«, sagte Jason. »Was Aeolus noch wütender gemacht hat.«
»C’est vrai«, sagte Boreas zustimmend.
»Aber, Eure Majestät«, sagte Piper, »den Göttern blieb gar nichts anderes übrig, als Typhon zu bekämpfen. Er wollte den Olymp zerstören! Und warum sollten dafür Halbgötter bestraft werden?«
Der König zuckte mit den Schultern. »Aeolus kann seinen Zorn nicht an den Göttern auslassen. Die sind seine Chefs und sehr mächtig. Also rächt er sich an den Halbgöttern, die ihnen im Krieg geholfen habe. Er hat uns klare Befehle erteilt. Halbgötter, die uns um Hilfe bitten, dürfen nicht mehr geduldet werden. Wir sollen eure kleinen sterblichen Visagen zu Mus schlagen.«
Ein unbehagliches Schweigen folgte.
»Das klingt … krass«, sagte dann Jason vorsichtig. »Aber Ihr werdet unsere Gesichter noch nicht zu Mus schlagen, oder? Ihr werdet uns anhören, denn wenn Ihr erst von unserem Auftrag erfahren habt …«
»Ja, ja«, sagte der König bereitwillig. »Ihr müsst wissen, Aeolus hat auch gesagt, ein Sohn des Zeus könnte mich um Hilfe bitten. Wenn das passierte, sollte ich dich erst anhören, ehe ich dich vernichte, denn du könntest – wie hat er sich noch ausgedrückt? – unser aller Leben sehr interessant machen. Ich muss dich aber nur anhören. Danach kann ich mein Urteil fällen, wie es mir angemessen erscheint. Aber ich werde zuerst zuhören. Auch Chione wünscht es so. Es ist durchaus möglich, dass wir euch nicht töten werden.«
Jason hatte fast das Gefühl, wieder atmen zu können. »Großartig. Danke.«
»Nichts zu danken.« Boreas lächelte. »Es gibt viele Möglichkeiten, wie ihr unser Leben interessant machen könntet. Manchmal behalten wir Halbgötter zu unserer Unterhaltung, wie ihr seht.«
Er zeigte durch den Saal auf die vielen Eisstatuen.
Piper stieß ein ersticktes Geräusch aus. »Ihr meint – das sind alles Halbgötter? Gefrorene Halbgötter? Die sind alle am Leben?«
»Eine interessante Frage«, gab Boreas zu, als ob er darüber noch niemals nachgedacht hätte. »Sie bewegen sich nur, wenn sie meine Befehle befolgen. Ansonsten sind sie einfach gefroren. Solange sie nicht schmelzen, aber das wäre eine Sauerei.«
Chione trat hinter Jason und legte ihre kalten Finger an seinen Hals. »Mein Vater macht mir so schöne Geschenke«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Schließ dich unserem Hof an. Dann lasse ich deine Freunde vielleicht laufen.«
»Was?«, schaltete Zethes sich ein. »Wenn Chione den kriegt, dann habe ich aber das Mädchen verdient. Chione bekommt immer mehr Geschenke als ich.«
»Aber Kinder«, sagte Boreas streng. »Unsere Gäste müssen doch meinen, ich hätte euch verwöhnt! Und ihr habt es zu eilig. Wir haben ja noch nicht einmal die Geschichte des Halbgottes gehört. Danach werden wir entscheiden, was mit ihnen geschehen soll. Bitte, Jason Grace, unterhalte uns.«
Jason spürte, wie sein Gehirn sich ausschaltete. Er sah Piper nicht an, aus Angst, total die Nerven zu verlieren. Er hatte die anderen hier hineingezogen und jetzt würden sie sterben – oder schlimmer noch, sie würden zum Spielzeug der Kinder des Boreas werden, für immer gefroren in diesem Thronsaal stehen und langsam durch Gefrierbrand zerfressen werden.
Chione schnurrte und streichelte seinen Nacken. Ohne dass Jason es wollte, jagten elektrische Funken über seine Haut. Es gab einen Knall und Chione wurde rückwärtsgeschleudert und rutschte durch die Halle.
Zethes lachte. »Das war gut. Es freut mich, dass du das gemacht hast, auch wenn ich dich jetzt töten muss.«
Für einen Moment war Chione zu verblüfft, um zu reagieren. Dann wirbelte die Luft um sie herum wie ein Mikroblizzard. »Wie kannst du es wagen …«
»Halt«, befahl Jason mit aller Kraft, die er aufbringen konnte. »Ihr werdet uns nicht töten. Und Ihr werdet uns nicht aufhalten. Wir sind im Auftrag der Königin der Götter persönlich unterwegs, und wenn Ihr nicht wollt, dass Hera Euch die Türen einrennt, dann müsst Ihr uns gehen lassen.«
Er klang viel zuversichtlicher, als ihm zu Mute war, aber er erregte zumindest die Aufmerksamkeit der anderen. Chiones Blizzard kam wirbelnd zum Stillstand. Zethes ließ sein Schwert sinken. Beide blickten unsicher ihren Vater an.
»Hmmm«, sagte Boreas. Seine Augen funkelten, aber Jason konnte nicht sehen, ob vor Wut oder vor Belustigung. »Ein Sohn des Zeus, der in Heras Gunst steht? Das ist wirklich etwas Neues. Erzähl uns deine Geschichte.«
An dieser Stelle hätte Jason die Sache fast verpatzt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihn reden lassen würden, und jetzt ließ ihn seine Stimme im Stich.
Piper rettete ihn. »Eure Majestät.« Sie machte wieder einen Knicks, mit unglaublicher Eleganz in Anbetracht der Tatsache, dass ihr Leben auf dem Spiel stand. Sie erzählte Boreas die ganze Geschichte, vom Grand Canyon bis zur Weissagung, viel besser und schneller, als Jason das gekonnt hätte.