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Sie aßen ihre Brote im Fliegen. Piper hatte keine Ahnung, wo Leo das Essen herhatte, aber er hatte sogar etwas Vegetarisches für sie dabei. Dieses Brot mit Käse und Avocado war einfach köstlich.

Niemand sagte etwas. Was immer sie in Chicago finden würden, sie wussten alle, Boreas hatte sie nur laufenlassen, weil er davon ausging, dass sie ohnehin an einem Himmelfahrtskommando teilnahmen. Der Mond ging auf und über ihnen drehten sich die Sterne. Piper fielen die Augen zu. Die Begegnung mit Boreas und seinen Kindern hatte ihr größere Angst gemacht, als sie zugeben mochte. Jetzt, wo ihr Magen gefüllt war, sackte ihr Adrenalinspiegel ab.

Reiß dich zusammen, Zuckerpüppchen, hätte Trainer Hedge sie angebrüllt. Sei kein Weichei! Piper musste immer wieder an den Trainer denken, seit Boreas erwähnt hatte, dass er noch am Leben war. Sie hatte Hedge zwar nie leiden können, aber er war von dem Felsen gesprungen, um Leo zu retten, und er hatte sich geopfert, um sie alle zu beschützen. Sie begriff jetzt, dass der alte Ziegenmann immer, wenn er sie in der Schule angebrüllt hatte, sie solle schneller laufen oder noch mehr Liegestütze machen, ja sogar, wenn er weggeschaut und sie ihren Kampf mit den Mobberinnen allein hatte ausfechten lassen, nur auf seine eigene nervige Weise versucht hatte, ihr zu helfen – indem er sie auf ihr Leben als Halbgöttin vorbereitete.

Am Grand Canyon hatte Dylan der Sturmgeist etwas über den Trainer gesagt: dass er in die Wüstenschule versetzt worden war, weil er zu alt wurde, als eine Art Strafe. Piper fragte sich, was das zu bedeuten hatte, und ob es erklärte, warum Hedge immer so schlecht gelaunt gewesen war. Jetzt, wo Piper wusste, dass er noch am Leben war, wollte sie ihn jedenfalls unbedingt retten.

Nun übertreib mal nicht, tadelte sie sich selbst. Du hast größere Probleme. Dieser Ausflug wird kein gutes Ende nehmen.

Sie war eine Verräterin, genau wie Silena Beauregard. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre Freunde das herausfinden würden.

Sie schaute zu den Sternen hoch und dachte an eine längst vergangene Nacht, in der sie und ihr Dad vor Opa Toms Haus kampiert hatten. Opa Tom war schon seit vielen Jahren tot, aber Dad hatte das Haus in Oklahoma behalten, weil er dort aufgewachsen war.

Sie waren für einige Tage hingefahren, um das Haus für den Verkauf aufzumöbeln, obwohl Piper sich nicht vorstellen konnte, wer eine heruntergekommene Hütte mit Fensterläden statt Glasscheiben und zwei winzigen Zimmern, die wie Zigarren rochen, kaufen wollte. Die erste Nacht war so erstickend heiß gewesen – keine Klimaanlage und Mitte August –, dass Dad vorgeschlagen hatte, draußen zu schlafen.

Sie hatten ihre Schlafsäcke ausgerollt und den Grillen zugehört, die im Gebüsch zirpten. Piper zeigte auf die Sternbilder, über die sie gelesen hatte – Herkules, die Leier des Apollo, Sagittarius, den Zentauren.

Ihr Vater verschränkte die Arme unter dem Kopf. In seinem alten T-Shirt und den Jeans sah er aus wie jeder andere aus Thalequa, Oklahoma – ein Cherokee, der den Boden des Stammes nie verlassen hatte. »Dein Opa würde sagen, dass diese griechischen Bezeichnungen Unsinn sind. Er hat mir erzählt, die Sterne seien Wesen mit leuchtendem Fell, wie magische Igel. Vor langer Zeit haben Jäger sogar im Wald einige gefangen. Sie begriffen erst nachts, was sie getan hatten, als die Sternwesen anfingen zu leuchten. Goldene Funken stoben aus ihrem Fell, und da ließen die Cherokee sie wieder zum Himmel fliegen.«

»Du glaubst an magische Igel?«, fragte Piper.

Ihr Dad lachte. »Ich glaube, Opa Tom hatte den Kopf voll Unsinn, genau wie die Griechen. Aber der Himmel ist groß. Da ist sicher Platz für Herkules und für Igel.«

Sie schweigen eine Weile, bis Piper sich ein Herz fasste und eine Frage stellte, die ihr schon lange zu schaffen machte. »Dad, warum spielst du eigentlich nie Indianerrollen?«

Eine Woche zuvor hatte er mehrere Millionen Dollar abgelehnt, um in einer Neuverfilmung von »The Lone Ranger« den Tonto zu spielen. Piper versuchte noch immer zu begreifen, warum. Er hatte alle möglichen Rollen gespielt – einen Latino-Lehrer in einer harten Schule in L. A., einen hinreißenden israelischen Spion in einem Actionfilm, sogar einen syrischen Terroristen in einem James-Bond-Film. Und natürlich würde er immer als König von Sparta bekannt sein. Aber wenn er einen Indianer spielen sollte – egal, wie die Rolle sonst angelegt war –, lehnte ihr Dad ab.

Er zwinkerte ihr zu. »Kommt mir zu nahe, Pipes. Ist leichter, vorzutäuschen, ich sei etwas, das ich nicht bin.«

»Wird das nicht langweilig? Hast du nie Lust dazu, wenn du zum Beispiel die perfekte Rolle fändest, die die Ansichten der Leute ändern könnte?«

»Wenn es so eine Rolle gibt, Pipes«, sagte er traurig, »dann habe ich sie noch nicht gefunden.«

Sie sah die Sterne an und versuchte, sie sich als leuchtende Igel vorzustellen. Sie sah aber nur die Strichfiguren, die sie kannte – Herkules, der über den Himmel rennt, um Monster umzubringen. Ihr Dad hatte wahrscheinlich Recht. Griechen und Cherokee waren gleichermaßen verrückt. Die Sterne waren einfach Feuerkugeln.

»Dad«, sagte sie. »Wenn dir das alles zu nahe kommt, warum schlafen wir dann vor Opa Toms Haus?«

Sein Lachen hallte in der stillen Nacht von Oklahoma wider. »Ich glaube, du kennst mich zu gut, Pipes.«

»Wir verkaufen das Haus doch nicht wirklich, oder?«

»Nein«, er seufzte. »Vermutlich nicht.«

Piper blinzelte und riss sich aus dieser Erinnerung. Sie merkte, dass sie auf dem Drachenrücken fast eingeschlafen war. Wie konnte ihr Dad vorgeben, so vieles zu sein, was er nicht war? Sie versuchte das jetzt ebenfalls, und es riss sie ein Stücke.

Vielleicht konnte sie sich noch ein bisschen etwas vormachen. Sie konnte davon träumen, eine Möglichkeit zu finden, wie sie ihren Vater retten könnte, ohne ihre Freunde zu verraten – auch wenn ihr ein glückliches Ende im Moment ungefähr so wahrscheinlich vorkam wie magische Igel.

Sie ließ sich an Jasons warme Brust zurücksinken. Er beschwerte sich nicht. Sowie sie die Augen geschlossen hatte, sank sie in tiefen Schlaf.

Im Traum war sie wieder auf dem Berg. Das gespenstische lila Feuer ließ die Bäume Schatten werfen. Pipers Augen brannten vor Rauch und der Boden war so heiß, dass ihre Stiefelsohlen daran festzukleben schienen.

Eine Stimme aus dem Dunklen grollte. »Du vergisst deine Pflicht!«

Piper konnte ihn nicht sehen, aber es war eindeutig der Riese, den sie am wenigsten mochte – der, der sich Enceladus nannte. Sie hielt Ausschau nach ihrem Vater, aber der Pfahl, an den er angekettet gewesen war, war nicht mehr vorhanden.

»Wo ist er?«, fragte sie. »Was hast du mit ihm gemacht?«

Das Lachen des Riesen war wie zischende Lava in einem Vulkan. »Sein Körper ist in Sicherheit, aber ich fürchte, dass der Verstand des armen Mannes meine Gesellschaft nicht mehr lange ertragen kann. Aus irgendeinem Grund findet er mich – beunruhigend. Du musst dich beeilen, Mädchen, oder ich fürchte, es wird nicht mehr viel von ihm übrig sein, was du retten könntest.«

»Lass ihn frei!«, schrie sie. »Nimm mich stattdessen. Er ist doch nur ein Sterblicher!«

»Aber meine Liebe«, dröhnte der Riese. »Wir müssen alle unsere Liebe zu unseren Eltern unter Beweis stellen. Das tue ich auch gerade. Zeig mir, dass dir das Leben deines Vaters wichtig ist, indem du tust, was ich verlange. Wer ist wichtiger – dein Vater oder eine tückische Göttin, die mit deinen Gefühlen spielt? Was bedeutet Hera dir denn überhaupt?«

Piper fing an zu zittern. In ihr brodelten so viel Zorn und Angst, dass sie kaum sprechen konnte. »Du verlangst, dass ich meine Freunde verrate.«

»Leider, meine Liebe, sind deine Freunde dem Tod geweiht. Ihr Auftrag kann nicht erfüllt werden. Und selbst wenn ihr Erfolg hättet, du hast doch die Weissagung gehört. Heras Zorn zu entfesseln würde deinen Untergang bedeuten. Die einzige Frage ist – wirst du mit deinen Freunden sterben oder mit deinem Vater leben?«