Das Feuer flammte auf. Piper versuchte, zurückzutreten, aber ihre Füße waren schwer. Sie merkte, dass der Boden sie nach unten zog, er klebte wie feuchter Sand an ihren Stiefeln. Als sie aufschaute, hatte sich ein Schauer aus lila Funken über den Himmel verteilt, und im Osten ging die Sonne auf. Im Tal unter ihr leuchteten Städte auf und weit im Westen sah sie über einer Hügelkette ein vertrautes Wahrzeichen aus dem Nebelmeer aufsteigen.
»Warum zeigst du mir das?«, fragte Piper. »Du verrätst mir, wo du bist.«
»Ja, du kennst diesen Ort«, sagte der Riese. »Führe deine Freunde hierher statt zu ihrem eigentlichen Ziel, dann übernehme ich den Rest. Oder besser noch, sorge für ihren Tod, ehe du hier ankommst. Mir ist egal, was du machst. Aber sei am Sonnwendtag mittags auf dem Gipfel, dann kannst du deinen Vater abholen und in Frieden gehen.«
»Ich kann nicht«, sagte Piper. »Du kannst nicht von mir verlangen …«
»Diesen törichten Knaben Valdez zu verraten, der dir immer schon auf die Nerven gegangen ist und der Geheimnisse vor dir hat? Einen Freund aufzugeben, den du in Wirklichkeit nie gehabt hast? Ist das wichtiger als dein eigener Vater?«
»Ich werde einen Weg finden, um dich zu besiegen«, sagte Piper. »Ich werde meinen Vater und meine Freunde retten.«
Der Riese knurrte in den Schatten. »Früher war ich auch stolz. Ich dachte, die Götter würden mich niemals besiegen können. Dann haben sie einen Berg auf mich geworfen, mich in den Boden gestampft, wo ich äonenlang kämpfen musste, vor Schmerz halb bewusstlos. Das hat mich Geduld gelehrt, Mädchen. Es hat mich gelehrt, nichts zu überstürzen. Jetzt habe ich mit Hilfe der erwachenden Erde den Weg zurück geschafft. Ich bin nur der Erste. Meine Brüder werden folgen. Wir werden uns unsere Rache nicht nehmen lassen – diesmal nicht. Und du, Piper McLean, brauchst eine Lektion in Bescheidenheit. Ich werde dir zeigen, wie leicht dein rebellischer Geist auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden kann.«
Der Traum löste sich auf. Und Piper erwachte schreiend und im freien Fall durch die Luft.
XXII
Piper
Piper stürzte durch die Luft. Tief unter sich sah sie die Lichter einer Stadt in der frühen Dämmerung leuchten, und mehrere Hundert Meter weiter drehte der Bronzedrache sich um sich selbst, unkontrollierbar, mit lahmen Flügeln und einem Feuer in seinem Schlund, das wie eine schlecht verdrahtete Glühbirne flackerte.
Ein Körper jagte an ihr vorüber – Leo, der schrie und hektisch nach den Wolken griff. »Neeein!«
Sie versuchte, ihn zu rufen, aber er war schon zu weit unten.
Irgendwo über ihr schrie Jason: »Piper, mach dich gerade. Streck Arme und Beine aus!«
Es fiel ihr schwer, ihre Angst unter Kontrolle zu bekommen, aber sie gehorchte und fand eine Art Gleichgewicht. Sie fiel jetzt mit ausgebreiteten Armen wie eine Fallschirmspringerin, und der Wind unter ihr war wie ein solider Eisblock. Dann war Jason da und schlang die Arme um ihre Taille.
Gott sei Dank, dachte Piper. Aber ein Teil von ihr dachte außerdem: Super. Jetzt umarmt er mich schon zum zweiten Mal in dieser Woche und beide Male, weil ich dabei bin, mich zu Tode zu stürzen.
»Wir müssen Leo helfen!«, schrie sie.
Ihr Fall verlangsamte sich, als Jason die Winde unter seine Kontrolle brachte, aber sie schlingerten weiterhin auf und ab, als wollten die Winde nicht ganz mitmachen.
»Wird hart«, warnte Jason. »Halt dich fest.«
Piper klammerte sich an ihn und Jason schoss auf den Boden zu. Wahrscheinlich stieß Piper einen Schrei aus, aber der Ton wurde von ihrem Mund weggerissen. Vor ihren Augen verschwamm alles.
Und dann, boing! Sie knallten gegen einen weiteren warmen Körper – Leo, der noch immer zappelte und fluchte.
»Lass das!«, sagte Jason. »Ich bin es doch!«
»Mein Drache!«, schrie Leo. »Du musst Festus retten!«
Jason hatte schon Mühe genug damit, sie alle drei in der Luft zu halten, und Piper wusste, dass er nie im Leben einem fünfzig Tonnen schweren Drachen aus Metall helfen könnte. Aber ehe sie Leo zur Vernunft bringen konnte, hörte sie unter sich eine Explosion. Eine Feuerkugel stieg hinter einer Gruppe von Lagerhäusern in den Himmel und Leo schluchzte. »Festus!«
Jasons Gesicht rötete sich vor Anstrengung, während er versuchte, ein Luftkissen unter ihnen zu halten, aber er schaffte es nur, dass sie langsamer absackten. Es war kein freier Fall mehr, es war eher so, als hüpften sie eine riesige Treppe hinunter, immer dreißig Meter auf einmal, und für Pipers Magen war das gar nicht gut.
Während sie noch stürzten, sah Piper die Fabrikanlage unter ihnen deutlicher – Lagerhäuser, Rauchsäulen, Schlote, Stacheldrahtzäune und Parkplätze voller verschneiter Fahrzeuge. Sie waren noch immer so hoch, dass der Aufprall auf den Boden sie plattmachen würde wie einen überfahrenen Igel, als Jason stöhnte: »Ich kann nicht …«
Und sie sackten ab wie Steine.
Sie knallten auf das Dach des größten Lagerhauses und stürzten weiter in die Dunkelheit.
Dummerweise versuchte Piper, auf den Füßen zu landen. Das gefiel ihren Füßen gar nicht. Stechender Schmerz schoss durch ihren linken Knöchel, als sie auf einer kalten Metalloberfläche zusammenbrach.
Einige Sekunden lang registrierte sie nur den Schmerz – einen so schlimmen Schmerz, dass ihre Ohren schrillten und vor ihren Augen alles rot wurde.
Dann hörte sie irgendwo unter sich Jasons Stimme, die im Gebäude widerhallte: »Piper! Wo ist Piper?«
»Bruderherz«, stöhnte Leo. »Das ist mein Rücken. Ich bin kein Sofa. Piper, wo steckst du?«
»Hier«, brachte sie mit wimmernder Stimme heraus.
Sie hörte Grunzen und Kratzen, dann Füße, die auf Metallstufen stampften.
Ihre Sicht klärte sich. Sie befand sich auf einem Laufsteg aus Metall, der sich um das Innere des Lagerhauses zog. Leo und Jason waren auf dem Boden gelandet und kamen jetzt die Treppe hoch auf sie zu. Sie sah ihren Fuß an und Wellen der Übelkeit spülten über sie hinweg. Ihre Zehen sollten doch nicht in diese Richtung zeigen, oder doch?
Oh Gott. Sie zwang sich, wegzuschauen, ehe sie sich übergeben musste. Konzentrier dich auf etwas anderes. Egal, worauf.
Das Loch, das sie ins Dach geschlagen hatten, klaffte wie nach einem Meteoriteneinschlag an die sieben Meter über ihnen. Piper konnte nicht begreifen, wie sie diesen Sturz überlebt hatten. Unter der Decke flackerten trübe einige wenige Glühbirnen, aber sie konnten die riesige Halle nicht beleuchten. Neben Piper war das zerfressene Metall mit einem Firmenlogo bedruckt, aber es war fast vollkommen von Graffiti verdeckt. Unten im dunklen Lagerraum konnte sie riesige Maschinen erahnen, Greifarme, halb fertige Lastwagen auf einem Fließband. Die Halle sah aus, als sei sie schon vor Jahren verlassen worden.
Jason und Leo kamen bei ihr an.
Leo fragte schon: »Alles okay?« Dann sah er ihren Fuß. »Nein, anscheinend nicht.«
»Danke für die Info«, stöhnte Piper.
»Das kommt schon in Ordnung«, sagte Jason, aber Piper konnte die Besorgnis in seiner Stimme hören. »Leo, hast du irgendwelche Erste-Hilfe-Sachen?«
»Ja, klar doch.« Leo suchte in seinem Werkzeuggürtel und zog Mullbinden und eine Rolle Isolierband heraus – beides schien viel zu groß für die Taschen im Gürtel zu sein. Piper war der Werkzeuggürtel schon am Morgen zuvor aufgefallen, aber sie war nicht auf die Idee gekommen, zu fragen. Der Gürtel sah ganz normal aus, so eine Art Lederschurz mit jeder Menge Taschen, wie ein Schmied oder Schreiner sie benutzte. Und er schien leer zu sein.
»Wie hast du …« Piper versuchte, sich aufzusetzen, und stöhnte. »Wie hast du diesen Kram aus einem leeren Gürtel geholt?«
»Magie«, sagte Leo. »Ich hab das noch nicht so ganz durchschaut, aber ich kann so ungefähr jedes normale Werkzeug aus diesen Taschen holen und dazu noch allerlei anderen nützlichen Kram.« Er griff in eine andere Tasche und fischte eine kleine Blechdose heraus. »Pfefferminz?«