Er machte sich an die Reinigung der Festplatte. Derweil sammelte sich der Schnee auf dem abkühlenden Drachen. Leo musste ab und zu eine Pause einlegen und Feuer heraufbeschwören, um den Schnee abschmelzen zu lassen, aber die meiste Zeit schaltete er auf Autopilot, und seine Hände arbeiteten ganz von selbst, während er seine Gedanken schweifen ließ.
Leo konnte nicht fassen, wie blödsinnig er sich im Palast des Boreas verhalten hatte. Er hätte sich doch denken können, dass eine Familie aus Wintergottheiten ihn auf Anhieb hassen würde. Der Sohn des Feuergottes, der auf einem Feuer speienden Drachen in ein eisiges Penthouse fliegt – vielleicht nicht der cleverste Schachzug. Aber er fand es trotzdem schrecklich, abgewiesen worden zu sein. Jason und Piper hatten den Thronsaal besuchen dürfen. Leo hatte in der Vorhalle warten müssen, mit Cal, dem Halbgott des Hockeys und der Hirnschädigungen.
Feuer ist schlecht, hatte Cal ihm gesagt.
Das fasste die Lage ganz gut zusammen. Leo wusste, dass er seinen Freunden die Wahrheit nicht mehr lange vorenthalten könnte. Seit sie Camp Half-Blood verlassen hatten, musste er immer wieder an diesen einen Satz aus der Großen Weissagung denken: Die Welt wird sterben in Sturm und Feuer.
Und Leo war der Feuermann, der erste seit 1666, als London abgebrannt war. Wenn er seinen Freunden sagte, was er wirklich konnte – He, wisst ihr was, Leute? Ich könnte die Welt zerstören! –, warum sollte ihn dann irgendwer im Camp willkommen heißen? Leo würde wieder fliehen müssen. Auch wenn er wusste, dass er das schaffen würde, machte die Vorstellung ihm Kummer.
Und dann war da noch Chione. Verflixt, die war toll. Leo wusste, dass er sich wie ein Vollidiot verhalten hatte, aber er war nicht dagegen angekommen. Er hatte sich die Kleider von dem Waschdienst reinigen lassen, der alles in einer Stunde schaffte und total nett gewesen war. Er hatte sich die Haare gekämmt – was nie eine einfache Aufgabe war – und hatte sogar entdeckt, dass der Werkzeuggürtel Pfefferminzpastillen liefern konnte, alles in der Hoffnung, in ihre Nähe zu gelangen. Aber natürlich hatte er Pech gehabt.
Kalt abgewiesen zu werden, von seinen Verwandten, von Pflegefamilien, von allen – seine Lebensgeschichte. Sogar in der Wüstenschule war Leo sich in den letzten Wochen wie das fünfte Rad am Wagen vorgekommen, als Jason und Piper, seine einzigen Freunde, ein Paar geworden waren. Natürlich freute er sich für sie, aber trotzdem hatte er das Gefühl, dass sie ihn nicht mehr brauchten.
Als er festgestellt hatte, dass Jasons ganzer Aufenthalt an der Schule eine Illusion gewesen war – eine Art frisierter Erinnerung –, war Leo insgeheim froh gewesen. Das war wie ein Neuanfang gewesen. Jetzt waren Jason und Piper schon wieder auf dem Weg, ein Paar zu werden – das hatte sich daran gezeigt, wie sie sich vorhin in der Fabrikhalle verhalten hatten, als ob sie unter vier Augen miteinander reden wollten, ohne Leo. Was hatte er denn erwartet? Er würde wieder überflüssig werden. Und Chione hatte ihm nur ein wenig schneller als die meisten anderen die kalte Schulter gezeigt.
»Das reicht, Valdez«, rief er sich zur Ordnung. »Niemand wird dir einen roten Teppich ausrollen, du bist einfach nicht wichtig. Und jetzt mach den blöden Drachen heil.« Er war so in die Arbeit vertieft, dass er gar nicht wusste, wie viel Zeit schon vergangen war, als er die Stimme hörte.
Du irrst dich, Leo, sagte sie.
Vor Schreck ließ er seine Bürste in den Drachenkopf fallen. Er stand auf, konnte aber nicht sehen, wer da gesprochen hatte. Dann schaute er zu Boden. Schnee, chemischer Matsch aus den Toiletten, sogar der Asphalt bewegte sich und schien sich zu verflüssigen. In einem Kreis von drei Metern Durchmesser bildeten sich Augen, eine Nase und ein Mund: das riesige Gesicht einer schlafenden Frau.
Sie sprach nicht direkt. Ihre Lippen bewegten sich nicht. Aber Leo konnte ihre Stimme in seinem Kopf hören, als ob die Schwingungen aus dem Boden kamen, in seine Füße flossen und durch seine Knochen widerhallten.
Sie brauchen dich so sehr, sagte sie. In gewisser Weise bist du der Wichtigste der sieben – wie die Festplatte im Drachengehirn. Ohne dich ist die Macht der anderen bedeutungslos. Sie werden mich nie erreichen, niemals aufhalten. Und ich werde vollständig erwachen.
»Du.« Leo zitterte dermaßen, dass er nicht sicher war, ob er laut gesprochen hatte. Er hatte diese Stimme zuletzt mit acht Jahren gehört, aber sie war es: die irdene Frau aus der Werkstatt. »Du hast meine Mom umgebracht.«
Das Gesicht veränderte sich. Der Mund bildete ein schläfriges Lächeln, wie in einem angenehmen Traum. Ach, Leo. Ich bin auch deine Mutter – die erste Mutter. Widersetz dich mir nicht. Geh jetzt. Lass meinen Sohn Porphyrion sich erheben und König werden, und ich werde deine Last erleichtern. Du wirst leichten Schrittes über die Erde wandeln.
Leo packte den erstbesten Gegenstand – einen Klositz – und schleuderte ihn in das Gesicht. »Lass mich in Ruhe!«
Der Klositz verschwand in der flüssigen Erde. Schnee und Matsch kräuselten sich und das Gesicht löste sich auf.
Leo starrte den Boden an und wartete darauf, dass das Gesicht sich noch einmal zeigte. Aber das tat es nicht. Leo wollte gern glauben, dass er sich alles nur eingebildet hatte.
Dann hörte er aus der Richtung der Fabrik einen Knall – wie zwei Müllwagen, die gegeneinanderprallen. Metall wurde zusammengeschoben und stöhnte und der Lärm hallte auf dem Hof wider. Sofort wusste Leo, dass Jason und Piper in Gefahr schwebten.
Geh jetzt, hatte die Stimme gedrängt.
»Das könnte dir so passen«, knurrte Leo. »Her mit dem größten Hammer, den wir haben.«
Er griff in den Werkzeuggürtel und zog einen drei Pfund schweren Hammer mit einem doppelseitigen Kopf von der Größe einer gebackenen Kartoffel hervor. Dann sprang er vom Drachenrücken und rannte zurück zur Fabrik.
XXIV
Leo
Leo blieb an der Tür stehen und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Die Stimme der Erdfrau hallte noch immer in seinen Ohren wider und erinnerte ihn an den Tod seiner Mutter. Das Letzte, was er wollte, war, wieder in einem dunklen Lagerhaus festzusitzen. Plötzlich fühlte er sich wieder acht Jahre alt, allein und hilflos, während Menschen, die ihm wichtig waren, gefangen und in Gefahr waren.
Komm wieder runter, sagte er sich. Sie will doch, dass du dich so fühlst.
Aber das konnte seine Angst nicht mindern. Er holte tief Atem und schaute in die Halle. Nichts sah verändert aus. Graues Morgenlicht sickerte durch das Loch im Dach. Einige Glühbirnen flackerten, aber der größte Teil des Bodens verlor sich in den Schatten. Er konnte den Metallsteg oben sehen, dazu die trüben Umrisse der schweren Maschinen am Fließband, aber keine Bewegung. Keine Spur seiner Freunde.
Fast hätte er sie gerufen, aber etwas hielt ihn zurück – ein Gefühl, das er nicht identifizieren konnte. Dann ging ihm auf, dass es der Geruch war. Etwas hier roch nicht richtig – wie brennendes Motoröl und Mundgeruch.
Etwas nicht Menschliches befand sich in der Fabrik, da war Leo sich sicher. Sein Körper schaltete in den höchsten Gang und alle seine Nerven prickelten.
Irgendwo in der Fabrik rief Pipers Stimme: »Leo, Hilfe!«
Aber Leo blieb stumm. Wie sollte Piper mit ihrem gebrochenen Knöchel den Steg verlassen haben? Er schlüpfte in die Halle und duckte sich hinter einem Container. Langsam, den Hammer in der Hand, arbeitete er sich zur Mitte der Halle vor und versteckte sich dabei hinter Kisten und leeren LKW-Karosserien. Endlich erreichte er das Fließband. Er ging hinter dem nächstgelegenen Gerät in die Hocke – einem Kran mit Greifarm.