Wieder rief Pipers Stimme: »Leo?« Diesmal unsicherer, aber sehr nah.
Leo spähte um den Kran herum. Gleich über dem Fließband – an einer von einem Kran auf der gegenüberliegenden Seite gehaltenen Kette – hing ein riesiger LKW-Motor; er baumelte einfach zehn Meter hoch in der Luft, als sei der bei der Stilllegung der Fabrik vergessen worden. Darunter auf dem Fließband lag das Chassis des LKW und darum drängten sich drei dunkle Umrisse, groß wie Gabelstapler. In der Nähe hingen von zwei weiteren Greifarmen an Ketten zwei kleinere Gegenstände – vielleicht weitere Motoren, aber die eine zappelte, als sei sie am Leben.
Dann erhob sich einer der Gabelstapler und Leo erkannte, dass es ein Humanoide von gewaltiger Größe war.
»Hab doch gesagt, das war nichts«, dröhnte er. Seine Stimme war zu tief und wild, um menschlich zu sein.
Eine der anderen Gestalten von der Größe eines Gabelstaplers bewegte sich und rief mit Pipers Stimme: »Leo, hilf mir! Hilfe!« Dann änderte die Stimme sich und polterte grob und maskulin: »Bah, hier ist niemand. So leise kann doch kein Halbgott sein, oder?«
Das erste Monster kicherte. »Ist sicher weggelaufen, wenn er weiß, was gut für ihn ist. Oder das Mädel hat gelogen, was den dritten Halbgott anging. Also, los geht’s.«
Wusch! Ein grelles orangefarbenes Licht erwachte zischend zum Leben – und Leo war für einen Moment geblendet. Er duckte sich hinter den Kran, bis er wieder klar sehen konnte. Dann schaute er wieder hin und erblickte einen Albtraum, wie ihn sich nicht einmal Tía Callida hätte ausdenken können.
Die beiden kleineren Gestalten, die an den Kranarmen hingen, waren keine Maschinen. Es waren Jason und Piper. Beide hingen mit dem Kopf nach unten an ihren Knöcheln, und sie waren bis zum Hals mit Ketten umwickelt. Piper warf sich hin und her und versuchte, sich zu befreien. Sie war geknebelt, aber immerhin lebte sie noch. Jason sah nicht so gut aus. Er hing schlaff da und hatte die Augen so verdreht, dass nur das Weiße zu sehen war. Über seiner linken Augenbraue saß eine apfelgroße Beule.
Die Ladefläche des halb fertigen Lieferwagens auf dem Fließband wurde als Feuerstätte benutzt. Dort brannte eine Mischung aus Reifen und Holz, die mit Kerosin überschüttet worden war – so roch es jedenfalls. Über den Flammen hing eine lange Metallstange – ein Spieß, wie Leo aufging, was bedeutete, dass das hier ein Herdfeuer war.
Und das Schrecklichste von allem waren die Köche.
MONOCLE MOTORS und dann dieses Logo mit dem roten Auge. Warum hatte Leo das nicht sofort begriffen?
Drei riesige Humanoiden standen um das Feuer.
Zwei schürten die Flammen, der größte hockte und kehrte Leo den Rücken zu. Die beiden, die ihm das Gesicht zudrehten, waren jeder drei Meter groß, mit muskulösen, behaarten Körpern und einer Haut, die im Feuerschein rot glühte. Eines der Monster trug einen Lendenschurz aus Metallringen, der wirklich unbequem aussah. Der andere hatte eine zerfetzte Toga aus Glasfaser-Isoliermaterial an, die auch nicht gerade zu Leos Lieblingsklamotten gehört hätte. Ansonsten hätten die beiden Monster Zwillinge ein können.
Beide hatten ein brutales Gesicht mit einem einzigen Auge mitten auf der Stirn. Die Köche waren Zyklopen.
Leos Beine gaben unter ihm nach. Er hatte ja schon allerlei seltsame Dinge gesehen – Sturmgeister und geflügelte Gottheiten und einen Metalldrachen, der gern Tabascosoße aß. Aber das hier war etwas anderes. Das hier waren echte drei Meter große lebende Monster aus Fleisch und Blut, die seine Freunde zum Abendessen verzehren wollten.
Er war vor Entsetzen dermaßen außer sich, dass er kaum denken konnte.
Wenn er nur Festus bei sich gehabt hätte. Jetzt hätte er einen Feuer speienden zwanzig Meter langen Panzer gut brauchen können. Aber er hatte nur einen Werkzeuggürtel und einen Rucksack. Sein drei Pfund schwerer Hammer sah im Vergleich zu diesen Zyklopen jämmerlich klein aus.
Das hier war es also, wovon die schlafende Erdfrau geredet hatte. Sie hatte gewollt, dass Leo wegging und seine Freunde sterben ließ.
Das entschied die Sache. Leo würde nicht zulassen, dass er sich dieser Erdfrau gegenüber jemals wieder hilflos fühlte – nie wieder. Leo streifte seinen Rucksack ab und öffnete ihn lautlos.
Der Zyklop im Lendenschurz ging zu Piper, die zappelte und versuchte, ihn mit dem Kopf im Auge zu treffen. »Kann ich ihr jetzt den Knebel wegnehmen? Ich hab es gern, wenn sie schreien.«
Die Frage war an den dritten Zyklopen gerichtet, der offenbar der Anführer war. Die hockende Gestalt grunzte und Lendenschurz riss den Knebel aus Pipers Mund.
Sie schrie nicht. Sie holte zitternd Atem, als versuchte sie, ruhig zu bleiben.
Leo hatte im Rucksack inzwischen gefunden, was er gesucht hatte: einen Stapel kleiner Fernkontrolleinheiten, den er im Bunker 9 eingesteckt hatte. Er hoffte zumindest, dass sie das waren. Die Wartungskonsole des Roboterkrans war leicht zu finden. Leo zog einen Schraubenzieher aus seinem Werkzeuggürtel und machte sich an die Arbeit, aber er musste langsam vorgehen. Der Oberzyklop war weniger als sieben Meter von ihm entfernt und diese Monster hatten offenbar hervorragende Sinnesorgane. Seinen Plan ohne Lärm durchzuführen schien ihm unmöglich, aber er hatte keine Wahl.
Der Zyklop in der Toga stocherte im Feuer herum, das jetzt loderte und ekelhaften schwarzen Rauch zur Decke schickte. Sein Kumpel Lendenschurz sah Piper wütend an und wartete darauf, dass sie mit dem Unterhaltungsprogramm anfing. »Schrei, Mädel! Ich mag lustiges Geschrei.«
Als Piper endlich etwas sagte, klang sie ruhig und vernünftig, als wolle sie ein ungezogenes Hundebaby zurechtweisen. »Ach, Herr Zyklop, Ihr wollt uns doch gar nicht umbringen. Es wäre viel besser, uns laufenzulassen.«
Lendenschurz kratzte sich an seinem hässlichen Kopf. Er drehte sich zu seinem Freund in der Glasfasertoga um. »Sie ist ja schon hübsch, Torque. Vielleicht sollte ich sie laufenlassen.«
Torque, der Trottel in der Toga, knurrte: »Ich hab sie zuerst gesehen, Sump. Wenn einer sie laufenlässt, dann ich!«
Sump und Torque fingen an zu streiten, aber der dritte Zyklop richtete sich auf und brüllte. »Idioten!«
Leo hätte fast den Schraubenzieher fallenlassen. Der dritte Zyklop war eine Zyklopin. Sie war über einen Meter größer als Torque und Sump und sogar noch kräftiger. Sie trug einen Kittel aus Kettenpanzer, der geschnitten war wie eins von diesen Sackkleidern, die Leos Tante Rosa immer getragen hatte. Wie hießen die noch – ein Muumuu? Ja, die Zyklopendame trug ein Kettenpanzermuumuu. Ihre fettigen schwarzen Haare waren zu Zöpfchen geflochten, in die Kupferdraht und Metallstreifen eingearbeitet waren. Ihre Nase und ihr Mund waren dick und zusammengequetscht, als ob sie ihre Freizeit damit verbrachte, ihren Kopf gegen Mauern zu rammen, aber ihr rotes Auge funkelte vor böser Intelligenz.
»Das Mädel ist Venusbrut«, fauchte die Zyklopin. »Sie versucht es mit Charme-Sprech.«
»Bitte, Ma’am …«, fing Piper an.
»Rarr!« Die Zyklopin packte Piper um die Taille. »Komm mir ja nicht mit deinen süßen Reden, Mädel. Ich bin Ma Gasket. Ich habe schön zähere Helden als dich zum Mittagessen verspeist.«
Leo hatte Angst, Piper könnte zerquetscht werden, aber Ma Gasket ließ sie wieder los, so dass sie an der Kette baumelte. Dann brüllte sie Sump an, wie blöd er doch sei.
Leos Hände arbeiteten fieberhaft. Er bog Drähte und drückte auf Schalter und dachte kaum daran, was er tat. Er hatte die Fernbedienung jetzt befestigt. Dann kroch er zum nächsten Robotarm, während die Zyklopen miteinander redeten.
»… sie zuletzt essen, Ma?«, sagte Sump gerade.
»Idiot!«, brüllte Ma Gasket und Leo ging auf, dass Sump und Torque ihre Söhne sein mussten. Wenn das so war, lag Hässlichkeit einwandfrei in der Familie. »Ich hätte euch als Babys auf der Straße aussetzen sollen, wie echte Zyklopenkinder. Dann hättet ihr vielleicht etwas Nützliches gelernt. Ein Fluch auf mein weiches Herz, dass ich euch behalten habe.«