Er wühlte in seinem Werkzeuggürtel, fand aber nichts.
»Zu speziell?«, fragte er. »Na gut, dann gib mir eine Trillerpfeife. Die gibt es doch in vielen Werkzeugläden.«
Diesmal zog Leo eine große orangefarbene Trillerpfeife aus Kunststoff hervor. »Trainer Hedge wäre neidisch! Also, Festus, hör zu.« Leo stieß einen Pfiff aus. Das schrille Geräusch war vermutlich überall am Michigansee zu hören. »Wenn du das hörst, dann kommt zu mir, okay? Bis dahin kannst du fliegen, wohin du willst, versuch nur, keine Fußgänger zu grillen.«
Der Drache schnaubte – hoffentlich zustimmend. Dann breitete er die Flügel aus und hob ab.
Piper machte einen Schritt und jammerte: »Ah!«
»Dein Knöchel?« Jason hatte ein schlechtes Gewissen, weil er vergessen hatte, dass sie sich in der Fabrik der Zyklopen verletzt hatte. »Vielleicht lässt die Wirkung des Nektars nach.«
»Ist schon gut.« Sie zitterte und Jason dachte an sein Versprechen, ihr eine neue Snowboardingjacke zu besorgen. Er hoffte, er würde dafür noch lange genug leben. Sie machte noch ein paar Schritte und humpelte dabei nur leicht, aber Jason sah genau, dass sie sich alle Mühe gab, keine Grimassen zu schneiden.
»Lass uns aus dem Wind weggehen«, schlug er vor.
»In die Abwässerkanäle?« Piper schüttelte sich. »Klingt gemütlich.«
Sie wickelten sich so gut ein, wie sie konnten, und steuerten den Springbrunnen an.
Auf einer Tafel stand, dass der Springbrunnen »Kronbrunnen« hieß. Alles Wasser war abgepumpt worden, bis auf einige kleine Lachen, auf denen sich eine dünne Eisschicht bildete. Jason kam es ohnehin nicht richtig vor, im Winter Wasser im Brunnen zu lassen. Aber diese riesigen Bildschirme hatten doch das Gesicht ihrer mysteriösen Feindin, der Erdfrau, gezeigt! Nichts hier war so, wie es sein sollte.
Sie gingen zur Mitte des Brunnens. Keine Geister versuchten, sie aufzuhalten. Die riesigen Bildschirme blieben dunkel. Der Abfluss war groß genug für eine Person und eine Wartungsleiter führte hinab in die Finsternis.
Jason stieg als Erster nach unten. Unterwegs bereitete er sich in Gedanken auf grauenhaften Abwassergestank vor, aber so schlimm war es gar nicht. Die Leiter endete in einem Klinkertunnel, der von Norden nach Süden verlief. Die Luft war warm und trocken und auf dem Boden gab es nur ein dünnes Rinnsal.
Piper und Leo kamen nach Jason unten an.
»Ist es in Kloaken immer so nett?«, fragte Piper.
»Nein«, sagte Leo. »Glaub mir.«
Jason runzelte die Stirn. »Woher weißt du …«
»He, Mann, ich bin sechsmal durchgebrannt. Da habe ich an allerlei seltsamen Orten gepennt, klar? Und jetzt, in welche Richtung?«
Jason legte den Kopf schräg, lauschte und zeigte dann nach Süden. »Da lang.«
»Wieso bist du so sicher?«, fragte Piper.
»Der Luftzug geht nach Süden«, sagte Jason. »Vielleicht haben die Venti sich einfach treiben lassen.«
Das klang nicht unbedingt überzeugend, aber die anderen hatten auch keinen besseren Vorschlag.
Unglücklicherweise stolperte Piper, sowie sie losgingen. Jason musste sie auffangen.
»Dieser blöde Knöchel«, sagte sie wütend.
»Wir legen eine Pause ein«, entschied Jason. »Die können wir alle brauchen. Wir sind seit vierundzwanzig Stunden ununterbrochen unterwegs. Leo, kannst du außer Pfefferminzpastillen noch etwas anderes Essbares aus deinem Werkzeuggürtel holen?«
»Ich dachte, du würdest niemals fragen. Spitzenkoch Leo legt los.«
Piper und Jason setzten sich auf einen Klinkervorsprung, während Leo seinen Gürtel durchwühlte.
Jason freute sich über die Ruhepause. Er war noch immer müde und ihm war schwindlig, und außerdem hatte er Hunger. Vor allem aber war er nicht gerade wild auf all das, was ihnen bevorstand. Er drehte seine Goldmünze zwischen den Fingern.
Wenn du sterben musst, hatte Hera prophezeit, dann von ihrer Hand.
Wer immer die Frau mit der Hand sein mochte. Nach Chione, der Zyklopenmutter und der seltsamen schlafenden Frau brauchte Jason wahrlich keine weitere durchgedrehte Killerin in seinem Leben.
»Das war nicht deine Schuld«, sagte Piper.
Er sah sie verwirrt an. »Was?«
»Dass die Zyklopen über uns hergefallen sind«, sagte sie. »Es war nicht deine Schuld.«
Er sah die Münze auf seiner Handfläche an. »Aber es war dumm von mir. Ich habe euch alleingelassen und bin in eine Falle getappt. Ich hätte wissen müssen …«
Er beendete den Satz nicht. Es gab zu viel, was er hätte wissen müssen – wer er war, wie man mit Monstern kämpft, wie Zyklopen ihre Opfer anlocken, indem sie Stimmen imitieren und sich im Schatten verstecken und hundert andere Tricks. Das alles hätte er im Kopf haben müssen. Er spürte die Stellen, wo all das abgespeichert sein müsste – wie leere Taschen. Wenn Hera wollte, dass er Erfolg hatte, warum hatte sie Erinnerungen gestohlen, die ihm helfen könnten? Sie behauptete, sein Gedächtnisverlust habe ihn am Leben erhalten, aber das ergab doch keinen Sinn. Langsam verstand er, warum Annabeth die Göttin lieber in ihrem Käfig sitzengelassen hätte.
»He«, Piper stupste seinen Arm an. »Gönn dir mal einen Moment Ruhe. Du bist zwar der Sohn des Zeus, aber deshalb bist du noch lange keine Ein-Mann-Armee.«
Einige Meter weiter entfachte Leo ein kleines Feuer zum Kochen. Er summte vor sich hin, während er Vorräte aus seinem Rucksack und seinem Werkzeuggürtel zog.
Im Feuerschein schienen Pipers Augen zu tanzen. Jason beobachtete sie jetzt seit Tagen und war noch immer nicht sicher, welche Farbe sie hatten.
»Ich weiß, dass dich das alles ganz schön runterziehen muss«, sagte er. »Nicht nur unser Auftrag, meine ich. Sondern auch, wie ich im Bus aufgetaucht bin, wie der Nebel deine Erinnerungen verwirrt hat und du gedacht hast, ich wäre … du weißt schon.«
Sie schlug die Augen nieder. »Na ja. Wir haben beide nicht darum gebeten. Es ist nicht deine Schuld.«
Sie spielte an ihren Zöpfchen herum. Wieder dachte Jason, wie froh er darüber sei, dass der Segen der Aphrodite sich verloren hatte. Mit Schminke und Kleid und der perfekten Frisur hatte sie ausgesehen wie fünfundzwanzig, elegant und absolut unerreichbar für ihn. Er hatte Schönheit nie als eine Art von Macht gesehen, aber so war Piper ihm vorgekommen – mächtig.
Die normale Piper gefiel ihm besser – eine, mit der er rumhängen konnte. Aber das Komische war, dass er sich dieses andere Bild von ihr nie ganz aus dem Kopf schlagen konnte. Es war keine Illusion gewesen. Auch diese Seite von Piper war vorhanden. Sie gab sich nur alle Mühe, sie zu verbergen.
»In der Fabrik«, sagte Jason, »da wolltest du gerade etwas über deinen Dad sagen.«
Sie ließ einen Finger über die Klinker wandern, fast, als ob sie einen Schrei aufschrieb, den sie nicht rauslassen wollte. »Wirklich?«
»Piper«, sagte er. »Er steckt irgendwie in Schwierigkeiten, oder?«
Über dem Feuer rührte Leo zischende Paprika und Fleischstücke in einer Pfanne um. »Jawohl, Baby. Fast fertig.«
Piper schien mit den Tränen zu kämpfen. »Jason … ich kann nicht darüber reden.«
»Wir sind deine Freunde. Lass uns helfen.«
Bei diesen Worten schien sie sich noch elender zu fühlen. Sie holte zitternd Atem. »Ich wünschte, das wäre möglich, aber …«
»Und bingo!«, verkündete Leo.
Er brachte drei Teller, die er wie ein Kellner auf seinen Arm gestapelt hatte. Jason hatte keine Ahnung, woher er so viel Essen nahm und wie er so schnell diese Mahlzeit zu Stande gebracht hatte, aber es sah umwerfend aus: Paprika-Rindfleisch-Tacos mit Pommes und Salsa.
»Leo«, sagte Piper überrascht. »Wie hast du …«
»Spitzenkoch Leos Taco-Garage hat genau das Richtige für Sie!«, sagte er stolz. »Und ganz nebenbei, das ist Tofu, kein Rindfleisch, Schönheitskönigin, also krieg keinen hysterischen Anfall. Hau einfach rein.«
Jason wusste nicht so recht, was er von Tofu halten sollte, aber die Tacos schmeckten so gut, wie sie rochen. Beim Essen versuchte Leo, die Stimmung ein wenig aufzulockern und Witze zu reißen. Jason war dankbar, dass Leo bei ihnen war. Das machte das Zusammensein mit Piper ein bisschen weniger angespannt und unbehaglich. Zugleich wünschte er sich auch, mit ihr allein zu sein, aber er machte sich Vorwürfe, weil er so empfand.