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Nach dem Essen riet Jason Piper, eine Runde zu schlafen. Ohne ein weiteres Wort rollte sie sich zusammen und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Zwei Sekunden später schnarchte sie schon.

Jason schaute zu Leo hoch, der sich offensichtlich bemühte, sich das Lachen zu verkneifen.

Sie schwiegen einige Minuten und tranken Limonade, die Leo aus Wasser aus dem Kanister und einem Pulver hergestellt hatte.

»Gut, was?« Leo grinste.

»Du solltest einen Kiosk aufmachen«, sagte Jason. »Da könntest du echt Geld verdienen.«

Aber als er in die schwelende Asche starrte, fingen seine Gedanken wieder an zu kreisen. »Leo … das mit dem Feuer, das du machen kannst … stimmt das?«

Leos Lächeln verflog. »Na ja, schon …« Er öffnete die Hand. Eine kleine Feuerkugel erwachte zum Leben und tanzte über seine Handfläche.

»Das ist einfach super«, sagte Jason. »Warum hast du nichts davon gesagt?«

Leo schloss die Hand und das Feuer erlosch. »Ich wollte nicht wie ein Freak wirken.«

»Ich habe Macht über Blitze und Winde«, erinnerte ihn Jason. »Piper kann von einem Moment auf den anderen schön werden und Leute dazu überreden, ihr BMWs zu schenken. Du bist kein größerer Freak als wir. Und he, vielleicht kannst du ja auch fliegen. Von einem Gebäude springen und rufen: ›Feurio, es brennt!‹«

Leo schnaubte. »Wenn ich das machte, würdest du einen flammenden Typen sehen, der in den Tod stürzt, und ich würde etwas Heftigeres rufen als ›Feurio!‹. Glaub mir, in der Hephaistos-Hütte gelten Feuerkräfte als ziemlich uncool. Nyssa hat mir gesagt, dass sie ungeheuer selten sind. Wenn ein Halbgott wie ich auftaucht, passieren schlimme Dinge. Wirklich schlimme Dinge.«

»Vielleicht ist es andersrum«, überlegte Jason. »Vielleicht tauchen Leute mit besonderen Begabungen immer dann auf, wenn schlimme Dinge passieren, weil sie dann besonders gebraucht werden.«

Leo räumte die Teller weg. »Vielleicht. Aber ich kann dir sagen … es ist nicht immer ein Geschenk.«

Jason verstummte. Dann fragte er: »Du redest von deiner Mom, oder? Von der Nacht, als sie gestorben ist.«

Leo gab keine Antwort. Aber das war auch nicht nötig. Die Tatsache, dass er schwieg und keine Witze riss – die sagte Jason genug.

»Leo, ihr Tod war nicht deine Schuld. Was immer in dieser Nacht passiert ist – es hat nicht daran gelegen, dass du Feuer heraufbeschwören kannst. Diese Erdfrau, wer immer sie sein mag, versucht seit Jahren, dich kaputtzumachen, dein Selbstvertrauen zu ruinieren, dir alles wegzunehmen, was dir wichtig ist. Sie will, dass du dir vorkommst wie ein Versager. Aber das bist du nicht. Du bist wichtig.«

»Das hat sie auch gesagt.« Leo schaute auf und seine Augen waren von Schmerz erfüllt. »Sie hat gesagt, ich sei zu etwas Wichtigem bestimmt – etwas, das die Große Weissagung über die Sieben Halbgötter wahr oder ungültig macht. Das macht mir ja gerade solche Angst. Ich weiß nicht, ob ich dem gewachsen bin.«

Jason hätte ihm gern gesagt, dass alles in Ordnung käme, aber das würde wie eine Lüge klingen. Jason hatte schließlich keine Ahnung, was passieren würde. Sie waren Halbgötter, und das bedeutete, dass nicht alles ein gutes Ende nahm. Manchmal wurde man auch von Zyklopen verspeist.

Viele Kinder fänden es sicher ganz schön cool, gefragt zu werden: »He, möchtest du Feuer oder Blitze oder magisches Make-up heraufbeschwören können?« Aber diese Fähigkeiten brachten auch unangenehme Sachen mit sich, wie mitten im Winter in einer Kloake zu sitzen, vor Monstern wegzulaufen, das Gedächtnis zu verlieren, zuzusehen, wie seine Freunde fast gegrillt werden, und Träume zu haben, die einen vor dem eigenen Tod warnten.

Leo stocherte in den Überresten seines Feuers und drehte mit der bloßen Hand rot glühende Kohlen um. »Möchtest du auch manchmal wissen, was mit den anderen vier Halbgöttern ist? Ich meine … wenn wir drei von denen aus der Großen Weissagung sind, wer sind dann die anderen? Und wo sind sie?«

Jason hatte natürlich auch schon darüber nachgedacht, versuchte aber, diese Gedanken zu verdrängen. Er hatte den entsetzlichen Verdacht, dass von ihm erwartet würde, diese anderen Halbgötter anzuführen, und er hatte Angst, dabei zu versagen.

Ihr werdet euch gegenseitig in Stücke reißen, hatte Boreas prophezeit.

Jason war dazu erzogen worden, niemals Angst zu zeigen. Da war er sich durch seinen Traum von den Wölfen sicher. Er musste immer zuversichtlich wirken, auch wenn ihm ganz anders zu Mute war. Aber Leo und Piper verließen sich auf ihn und er hatte schreckliche Angst davor, sie im Stich zu lassen. Wenn er eine Gruppe von sechs Halbgöttern anführen müsste – sechs, die sich untereinander vielleicht nicht mal vertrügen –, würde das sogar noch schlimmer sein.

»Ich weiß nicht«, sagte er endlich. »Ich nehme an, die anderen vier werden schon auftauchen, wenn die Zeit gekommen ist. Wer weiß? Vielleicht erledigen sie gerade noch einen anderen Auftrag.«

Leo grunzte. »Die haben garantiert eine nettere Kloake als wir.«

Der Luftzug wurde stärker und wehte zum Südende des Tunnels.

»Ruh dich aus, Leo«, sagte Jason. »Ich übernehme die erste Wache.«

Es war schwer, die Zeit zu messen, aber Jason nahm an, dass seine Freunde vier Stunden schliefen. Jason war das egal. Jetzt, wo er sich ausruhen konnte, hatte er eigentlich kein Bedürfnis nach noch mehr Schlaf. Auf dem Drachen war er lange genug weggedämmert. Und er brauchte Zeit, um über den Auftrag, seine Schwester Thalia und Heras Warnungen nachzudenken. Außerdem hatte er gar nichts dagegen, dass Piper ihn als Kissen benutzte. Sie atmete so süß, wenn sie schlief – durch die Nase ein und dann mit leisem Schnaufen durch den Mund wieder aus. Er war fast enttäuscht, als sie aufwachte.

Endlich brachen sie auf und gingen weiter in den Tunnel hinein.

Der hatte ungeheuer viele Kurven und schien unendlich lang zu sein. Jason war nicht sicher, was er am Ende erwarten sollte – einen Kerker, das Labor eines verrückten Wissenschaftlers oder vielleicht einen Kloakenstausee, wo aller Dixi-Klo-Schlamm gesammelt wurde und ein scheußliches Toilettengesicht bildete, das groß genug war, um die ganze Welt zu verschlingen.

Stattdessen stießen sie auf polierte stählerne Fahrstuhltüren, und in jede war der kursive Buchstabe M eingraviert. Neben dem Fahrstuhl gab es einen Übersichtsplan, wie in einem Warenhaus.

»M für Macy’s?«, überlegte Piper. »Ich glaube, die haben in Chicago eine Filiale.«

»Oder noch immer Monocle Motors?«, sagte Leo. »Lest mal, was da steht. Das ist echt schräg.«

Kosmetik, Elixiere, Gifte und Accessoires

4

Herrenbekleidung und Waffenkammer

3

Damenbekleidung und magisches Zubehör

2

Einrichtung und Café M

1

Parken, Zwinger, Haupteingang

Kanalisationsebene

»Was denn für Zwinger?«, fragte Piper. »Und welches Warenhaus hat einen Eingang in der Kanalisation?«

»Oder verkauft Gift?«, fragte Leo. »Und was kann ›Accessoires‹ wohl sein?«

Jason holte tief Atem. »Im Zweifel immer von oben nach unten.«

Die Türen öffneten sich zum vierten Stock und Parfümduft schwebte in den Fahrstuhl.

Jason stieg als Erster aus und hob sein Schwert.

»Leute«, sagte er. »Das müsst ihr sehen.«

Piper trat neben ihn und schnappte nach Luft. »Macy’s ist das jedenfalls nicht.«

Das Warenhaus sah aus wie das Innere eines Kaleidoskops. Die Decke bestand aus einem bunten Glasmosaik mit Sternbildern und einer riesigen Sonne. Das Tageslicht, das hindurchfiel, durchflutete alles in tausend verschiedenen Farben. Die oberen Stockwerke bildeten einen Ring aus Galerien um einen riesigen Innenhof, und deshalb konnte man bis zum Erdgeschoss hinabblicken. Die goldenen Geländer funkelten so hell, dass es schwerfiel, sie anzusehen.