Abgesehen von der bunten Glasdecke und dem Fahrstuhl konnte Jason keine weiteren Fenster oder Türen entdecken, aber zwischen den Stockwerken gab es zwei gläserne Rolltreppen. Die Teppiche hatten wilde orientalische Muster in allen Farben und die Regale mit den Waren waren einfach bizarr. Es war viel zu viel, um es alles auf einmal zu registrieren, aber Jason sah normale Dinge wie Warenständer mit Hemden und Schuhregale zwischen Schaufensterpuppen in Rüstung, Nagelbrettern und Pelzmänteln, die sich zu bewegen schienen.
Leo trat ans Geländer und schaute nach unten. »Seht euch das mal an.«
In der Mitte des Innenhofes ließ ein Springbrunnen Wasser fast sieben Meter in die Luft schießen, das seine Farbe von Rot über Gelb zu Blau wechselte. Im Becken funkelten Goldmünzen und auf beiden Seiten des Brunnens stand ein vergoldeter Käfig – wie ein überdimensionales Vogelbauer.
In einem Käfig tobte ein winziger Hurrikan und Blitze leuchteten auf. Jemand hatte die Sturmgeister gefangen genommen und der Käfig bebte bei ihren Ausbruchsversuchen. Im anderen Käfig saß, zur Statue erstarrt, ein kleiner kräftiger Satyr, der eine Astkeule in der Hand hielt.
»Trainer Hedge«, sagte Piper. »Wir müssen nach unten.«
Eine Stimme fragte: »Kann ich euch irgendwie behilflich sein?«
Alle drei fuhren zurück.
Vor ihnen war wie aus dem Nichts eine Frau aufgetaucht. Sie trug ein elegantes schwarzes Kleid mit Diamantschmuck und sah aus wie ein ehemaliges Model – vielleicht fünfzig Jahre alt, auch wenn Jason das nur schwer einschätzen konnte. Ihre langen dunklen Haare waren über eine Schulter geworfen und ihr Gesicht war wunderschön, auf diese unwirkliche Supermodelart – dünn und hochmütig und kalt, nicht ganz menschlich. Mit ihren langen rot lackierten Nägeln sahen ihre Finger eher aus wie Krallen.
Sie lächelte. »Ich freue mich immer über neue Kundschaft. Was kann ich für euch tun?«
Leo schaute Jason an, als wolle er sagen: »Du bist am Zug.«
»Äh«, sagte Jason. »Ist das Ihr Laden?«
Die Frau nickte. »Ich habe ihn verlassen vorgefunden. Soviel ich weiß, ist das heutzutage bei vielen Warenhäusern der Fall. Ich fand, es ist der perfekte Ort für mich. Ich sammele mit Leidenschaft geschmackvolle Gegenstände, und ich helfe gern Leuten und biete Qualitätsware zu einem akzeptablen Preis an. Und so erschien mir das hier als gute … wie nennt ihr das … erste Investition in diesem Land.« Sie hatte einen angenehmen Akzent, den Jason aber nicht einordnen konnte. Jedenfalls war sie nicht feindselig eingestellt. Jason fing an, lockerer zu werden. Ihre Stimme war klangvoll und exotisch. Jason wollte mehr hören.
»Sie sind also neu in Amerika?«, fragte er.
»Ich bin … neu«, sagte die Frau zustimmend. »Ich bin die Prinzessin von Kolchis. Meine Freunde nennen mich Eure Hoheit. Aber was sucht ihr denn nun?«
Jason hatte schon von reichen Ausländern gehört, die sich in den USA Warenhäuser kauften. Natürlich handelten sie eher nicht mit Gift, lebenden Pelzmänteln oder Satyrn, aber dennoch – bei dieser wunderbaren Stimme konnte die Prinzessin von Kolchis nicht ganz schlecht sein.
Piper versetzte ihm einen Rippenstoß.
»Äh, richtig. Also, Eure Hoheit, eigentlich …« Er zeigte auf den vergoldeten Käfig im Erdgeschoss. »Das da unten ist unser Freund Gleeson Hedge. Der Satyr. Können wir … ihn zurückhaben, bitte?«
»Natürlich«, sagte die Prinzessin augenblicklich. »Ich zeige euch gern mein Inventar. Aber darf ich zuerst um eure Namen bitten?«
Jason zögerte. Es schien ihm keine gute Idee, ihre Namen zu verraten. Irgendwo weit hinten in seinem Kopf regte sich eine Erinnerung – an etwas, wovor Hera ihn gewarnt hatte, aber es blieb unscharf.
Andererseits wirkte Ihre Hoheit doch sehr umgänglich. Wenn sie ohne Kampf bekommen konnten, was sie wollten, desto besser. Und diese Dame sah wirklich nicht aus wie eine Feindin.
Piper sagte: »Jason, ich finde nicht …«
»Das ist Piper«, sagte er. »Das ist Leo. Ich bin Jason.«
Die Prinzessin richtete die Augen auf ihn, und nur für einen Moment leuchtete ihr Gesicht buchstäblich auf, es loderte in einem solchen Zorn, dass Jason ihren Schädel unter ihrer Haut sehen konnte. Jasons Gedanken wurden immer verwirrter, aber er wusste, dass hier etwas nicht stimmte. Dann war der Augenblick vorbei und Ihre Hoheit sah wieder aus wie eine normale elegante Frau mit einem herzlichen Lächeln und einer beruhigenden Stimme.
»Jason. Was für ein interessanter Name«, sagte sie und ihre Augen waren so kalt wie der Wind von Chicago. »Ich glaube, wir werden dir einen Sonderpreis machen müssen. Kommt Kinder. Gehen wir einkaufen.«
XXVII
Piper
Piper wäre am liebsten zum Fahrstuhl gestürzt.
Ihre zweite Wahclass="underline" die seltsame Prinzessin jetzt sofort anzugreifen, denn sie war sicher, dass ohnehin ein Kampf bevorstand, so, wie das Gesicht der Dame geglüht hatte, als sie Jasons Namen gehört hatte. Jetzt lächelte Ihre Hoheit, als wäre nichts passiert, und Jason und Leo schienen keinerlei Unheil zu wittern.
Die Prinzessin zeigte auf den Kosmetiktresen. »Fangen wir mit den Elixieren an?«
»Super«, sagte Jason.
»Jungs«, schaltete Piper sich ein. »Wir sind hier, um die Sturmgeister und Trainer Hedge zu holen. Wenn diese – Prinzessin – wirklich unsere Freundin ist …«
»Ach, ich bin etwas Besseres als eine Freundin, meine Liebe«, sagte Ihre Hoheit. »Ich bin Verkäuferin.« Ihre Diamanten funkelten und ihre Augen glitzerten wie die einer Schlange – kalt und düster. »Keine Sorge. Wir werden uns schon zum Erdgeschoss hinabarbeiten, was?«
Leo nickte eifrig. »Sicher, klar. Klingt doch gut. Oder, Piper?«
Piper gab sich alle Mühe, ihn mit Blicken zu durchbohren. Nein, tut es nicht!
»Natürlich tut es das.« Ihre Hoheit legte Leo und Jason die Hände auf die Schultern und führte sie zur Kosmetikabteilung. »Na los, Jungs.«
Piper blieb nichts anderes übrig, als hinterherzugehen.
Sie hasste Kaufhäuser – vor allem, weil sie in mehreren als Ladendiebin erwischt worden war. Na ja, nicht direkt erwischt, und Diebin war sie auch nicht direkt gewesen. Sie hatte die Verkäufer überredet, ihr Computer, neue Stiefel, einen goldenen Ring, einmal sogar einen Rasenmäher zu schenken, obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie damit wollte. Sie behielt den Kram nie. Sie wollte sowieso nur die Aufmerksamkeit ihres Dads. Meistens überredete sie die UPS-Leute aus der Nachbarschaft, die Sachen zurückzubringen. Aber natürlich kamen die Verkäufer, die sie bezirzt hatte, immer irgendwann zu sich und riefen die Polizei, die Piper auch manchmal stellte.
Jedenfalls fand sie es gar nicht prickelnd, nun wieder in einem Kaufhaus zu sein – schon gar nicht in einem, das einer verrückten, im Dunkeln leuchtenden Prinzessin gehörte.
»Und dies«, sagte die Prinzessin, »ist die beste Auswahl an magischen Mixturen, die es überhaupt gibt.«
Der Tresen war vollgestopft mit blubbernden Bechern und rauchenden Phiolen auf Dreifüßen. In den Vitrinen standen Kristallflakons, geformt wie Schwäne oder bärenförmige Honigspender. Die Flüssigkeiten darin hatten alle möglichen Farben, von leuchtend weiß zu bunt getupft. Und der Geruch – uäh! Einige rochen angenehm, wie frisch gebackene Plätzchen oder Rosen, aber darunter mischte sich der Gestank von brennenden Reifen, Stinktiersekreten und Sportumkleiden.
Die Prinzessin zeigte auf eine blutrote Phiole – ein einfaches Reagenzglas mit einem Korkstöpsel. »Das hier heilt jegliche Krankheit.«
»Sogar Krebs?«, fragte Leo. »Lepra? Nagelbettentzündung?«
»Jede Krankheit, mein Süßer. Und diese Phiole«, sie zeigte auf einen schwanförmigen Behälter, der mit einer blauen Flüssigkeit gefüllt war, »tötet dich auf überaus schmerzhafte Weise.«
»Super«, sagte Jason. Seine Stimme klang verwaschen und schläfrig.