»Nein«, schluchzte Leo. Er rannte zum Drachenkopf und streichelte die Schnauze. Die Augen des Drachen flackerten ein wenig. Öl tropfte aus seinem Ohr.
»Du darfst nicht sterben«, flehte Leo. »Du bist das Beste, was ich je repariert habe.« Der Drachenkopf bewegte seine Schalthebel, als wolle er schnurren. Jason und Piper stellten sich zu Leo, aber der starrte nur den Drachen an.
Dann fiel ihm ein, was Hephaistos gesagt hatte: »Es ist nicht deine Schuld, Leo. Nichts hält für immer, nicht einmal die besten Maschinen.« Sein Vater hatte versucht, ihn zu warnen.
»Das ist nicht fair«, sagte Leo.
Der Drache ließ ein Klicken hören. Dann ein langes Ächzen. Zweimal kurzes Klicken, zweimal langes Ächzen. Fast wie ein Muster … und das setzte in Leos Gedanken eine alte Erinnerung frei. Ihm ging auf, dass Festus versuchte, etwas zu sagen. Er morste – so, wie Leo es vor Jahren von seiner Mom gelernt hatte. Leo hörte genauer hin und übersetzte das Klicken in Buchstaben, eine schlichte Mitteilung, die immerzu wiederholt wurde.
»Ja«, sagte Leo. »Ich habe verstanden. Das werde ich. Versprochen.«
Die Augen des Drachen wurden schwarz. Festus war nicht mehr.
Leo weinte. Es war ihm nicht einmal peinlich. Seine Freunde standen neben ihm, streichelten seine Schultern, versuchten, ihn zu trösten, aber ihre Worte gingen im Rauschen in Leos Ohren unter.
Endlich sagte Jason: »Das tut mir so leid, Mann. Was hast du Festus versprochen?«
Leo schniefte. Er öffnete die Klappe im Drachenkopf, nur sicherheitshalber, aber die Festplatte war unwiderruflich verbrannt und zerbrochen.
»Etwas, das mein Dad mir gesagt hat«, sagte Leo. »Alles kann wiederverwendet werden.«
»Dein Dad hat mit dir gesprochen?«, fragte Jason. »Wann war das denn?« Leo gab keine Antwort. Er schraubte an den Nackenscharnieren des Drachen, bis er den Kopf abnehmen konnte. Der wog an die hundert Pfund, aber Leo konnte ihn gerade so in den Armen halten. Er schaute zum Sternenhimmel hoch und flehte: »Bring ihn zurück in den Bunker, Dad, bitte, bis ich ihn wiederverwenden kann. Ich habe dich noch nie um etwas gebeten.«
Der Wind wurde heftiger, und der Drachenkopf entschwebte Leos Armen, als ob er kein Gewicht hätte. Er flog hinauf zum Himmel und war verschwunden.
Piper starrte Leo verdutzt an. »Er hat dir wirklich geantwortet?«
»Ich hatte einen Traum«, brachte Leo heraus. »Ich erzähl es später.«
Leo wusste, dass er seinen Freunden eine Erklärung schuldete, aber er konnte kaum sprechen. Er fühlte sich selbst wie eine zerbrochene Maschine – als hätte jemand einen kleinen Teil von ihm entfernt und er würde niemals wieder vollständig sein. Er konnte sich bewegen, er konnte sprechen, er konnte weitermachen und seine Aufgaben erfüllen. Aber er würde nie im Gleichgewicht sein, niemals genau richtig ausbalanciert.
Aber er durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Sonst wäre Festus umsonst gestorben. Leo musste seine Aufgabe erfüllen – für seine Freunde, für seine Mom, für seinen Drachen.
Er schaute sich um. In der Mitte des Grundstücks leuchtete die weiße Villa. Hohe Klinkermauern mit Scheinwerfern und Sicherheitskameras umgaben das Grundstück, aber erst jetzt konnte Leo sehen – oder eher spüren –, wie gut diese Mauern verteidigt wurden.
»Wo sind wir?«, fragte er. »Ich meine, in welcher Stadt?«
»Omaha, Nebraska«, sagte Piper. »Ich habe ein Ortsschild gesehen, als wir gelandet sind. Aber ich weiß nicht, was das hier für ein Haus ist. Wir waren direkt hinter dir, und als du gelandet bist, Leo – ich könnte schwören, es sah aus wie … ich weiß nicht …«
»Laser«, sagte Leo. Er hob ein Stück Drachenrest auf und warf es in Richtung Mauer. Sofort erschien ein Geschützturm auf der Mauer und ein Strahl aus purer Hitze äscherte die Bronzeplatte ein.
Jason stieß einen Pfiff aus. »Wahnsinns-Verteidigungssystem. Wieso sind wir überhaupt noch am Leben?«
»Festus«, sagte Leo mit jämmerlicher Stimme. »Er hat das Feuer abgefangen. Die Laserstrahlen haben ihn zerfetzt, als er gelandet ist, deshalb haben sie nicht auf euch geachtet. Ich habe ihn in eine tödliche Falle geführt.«
»Das konntest du ja nicht wissen«, sagte Piper. »Er hat noch einmal unser Leben gerettet.«
»Aber was jetzt?«, fragte Jason. »Die Tore sind verschlossen und ich vermute, ich kann uns nicht hier rausfliegen, ohne abgeschossen zu werden.«
Leo schaute die Auffahrt zu der großen weißen Villa hoch. »Wenn wir nicht rauskönnen, müssen wir eben reingehen.«
XXXI
Jason
Ohne Leo wäre Jason auf dem Weg zur Haustür fünfmal gestorben.
Zuerst war da die bewegungsempfindliche Falltür im Boden, dann die Lasergeschosse auf der Treppe, das Nervengas im Verandageländer, die druckgesteuerten Giftstacheln in der Fußmatte und natürlich die explodierende Türklingel.
Leo entschärfte alles. Er schien die Fallen riechen zu können und er nahm immer genau das richtige Werkzeug aus seinem Gürtel, um sie unschädlich zu machen.
»Du bist umwerfend, Mann«, sagte Jason.
Leo runzelte die Stirn, als er das Türschloss betrachtete. »Klar«, sagte er. »Ich kann zwar keinen Drachen flicken, aber ich bin umwerfend.«
»He, das war nicht deine …«
»Die Haustür ist schon offen«, teilte Leo mit.
Piper starrte die Tür ungläubig an. »Wirklich? So viele Fallen und dann ist die Tür nicht abgeschlossen?«
Leo drehte den Türknauf. Die Tür öffnete sich sofort. Ohne zu zögern, ging er hinein.
Ehe Jason ihm folgen konnte, packte Piper seinen Arm. »Er braucht Zeit, um das mit Festus zu verarbeiten. Nimm es nicht persönlich.«
»Ja«, sagte Jason. »Ja, schon gut.«
Aber ihm war noch immer total elend zu Mute. In Medeas Kaufhaus hatte er Leo ziemliche Gemeinheiten an den Kopf geworfen – Dinge, die ein Freund eigentlich nicht sagen dürfte, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er Leo fast mit einem Schwert aufgespießt hätte. Ohne Piper wären sie jetzt beide tot. Und Piper war aus diesem Scharmützel auch nicht unverletzt herausgekommen.
»Piper«, sagte er. »Ich weiß, dass ich in Chicago ziemlich im Tran war, aber was deinen Dad angeht – wenn er Probleme hat, dann möchte ich helfen. Ist mir egal, ob es eine Falle ist oder nicht.«
Ihre Augen hatten immer schon unterschiedliche Farben gehabt, aber jetzt sahen sie gebrochen aus, als habe sie etwas gesehen, mit dem sie einfach nicht leben konnte. »Jason, du weißt nicht, was du da sagst. Bitte – mach es nicht noch schlimmer für mich. Komm jetzt. Wir müssen zusammenhalten.«
Sie verschwand im Haus.
»Zusammenhalten«, sagte Jason zu sich. »Klar, darin sind wir genial.«
Jasons erster Eindruck des Hauses: dunkel.
Das Echo seiner Schritte sagte ihm, dass die Eingangshalle riesig war, noch größer als das Penthouse des Boreas; aber das einzige Licht stammte von den Scheinwerfern draußen. Ein schwaches Leuchten fiel durch die Spalten in den dicken Samtvorhängen. Die Fenster waren an die drei Meter hoch. Zwischen ihnen standen lebensgroße Metallstatuen vor den Wänden. Als Jasons Augen sich an das trübe Licht gewöhnt hatten, sah er zu einem Hufeisen aufgestellte Sofas mitten im Raum, in der Mitte stand ein Kaffeetisch und an der Seite ein einzelner tiefer Sessel. Über ihnen funkelte ein riesiger Kronleuchter. In der hinteren Wand war eine Reihe verschlossener Türen.
»Wo ist der Lichtschalter?« Seine Stimme hallte im Raum bedrohlich wider.
»Sehe keinen«, sagte Leo.
»Feuer?«, schlug Piper vor.
Leo streckte die Hand aus, aber nichts passierte. »Funktioniert nicht.«
»Dein Feuer ist ausgegangen? Warum?«, fragte Piper.
»Also, wenn ich das wüsste …«
»Ist schon gut«, sagte sie. »Was tun wir jetzt – das Haus erforschen?«