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»Jedes Kind kann sehen, daß er nicht blutet.« Ich sagte es scherzend, aber vermutlich überzeugte sie die aus meinen Worten klingende Erleichterung. Sie blieb an meiner Seite und schloß sich der Rattenfängerprozession zum Eingang des Wahlkampfbüros an, wo mein Vater einen Schlüssel hervorholte und alle hineinbat.

Er hüpfte zu dem Drehstuhl hinter seinem gewohnten Schreibtisch, sah eine Nummer nach und rief die Ortspolizei.

»Da sind schon Beschwerden eingegangen«, erklärte er uns, als er auflegte. »Sie sind auf dem Weg hierher. Abfeuern eines Schusses ... Ruhestörung ... so in der Art.«

Jemand sagte: »Sie brauchen einen Arzt«, und jemand anders verständigte einen.

»Zu liebenswürdig. Sie sind alle unheimlich nett«, sagte mein Vater.

Ich löste mich aus dem Gedränge und schaute von der offenen Tür hinüber zum Schlafenden Drachen, der sinnigerweise hellwach war - Leute blickten aus den Fenstern der oberen Stockwerke, Leute standen im hell erleuchteten Eingang.

Das Pfeifen der vorbeizischenden Kugel fiel mir ein, und ich dachte an Abpraller. Mein Vater war auf geradem Weg vom Hotel zum Wahlkampfbüro gegangen. Wenn die Kugel ihm gegolten hatte und er genau im Moment des Abdrückens gestolpert war; wenn der Schuß aus einer der oberen Etagen des Schlafenden Drachen gekommen war und nicht von unten, wo noch zu viele Leute herumliefen; wenn das Klirren, das ich gehört hatte, wirklich von zersprungenem Glas rührte - wieso waren dann die Scheiben hier im Erker noch alle unbeschädigt?

Weil das Ganze ein Zufall war, sagte ich mir. Der Schuß war nicht dazu bestimmt gewesen, George Juliards politische Laufbahn zu beenden, bevor sie noch angefangen hatte. Natürlich nicht. Kindisch, das zu dramatisieren.

Ich wollte wieder hineingehen, drehte mich um und sah ein paar Glasscherben am Boden aufblitzen.

Das Fenster des Trödelladens nebenan war getroffen worden.

Abpraller. Die Kugel konnte durch die gewölbte Oberfläche eines Pflastersteins aus der geraden Flugbahn gebracht worden sein. Eine geradeaus fliegende Kugel hätte wahrscheinlich glatt das Glas durchschlagen, ohne es zu zerschmettern, aber eine aus der Bahn gebrachte ... deren Schwingungen konnten Glas bersten lassen.

Die Polizei traf auf dem Parkplatz des Büros ein, und der Arzt ebenfalls. Alle redeten gleichzeitig.

Der Arzt sagte, während er Vaters Fuß verband, es handele sich um eine Zerrung, nicht um einen Bruch. Kalte Umschläge und Hochlagern empfahl er. Die Polizei ließ sich von dem Wichtigtuer über Gewehrschüsse belehren.

Ich stellte mich etwas abseits, und irgendwann sah ich, wie mein Vater erstaunt und fragend durch das Gedränge zu mir herübersah. Ich lächelte ein wenig, und schon war die Sicht auf ihn wieder durch Leute versperrt.

Einem Polizisten, der noch nicht lange in Uniform zu stecken schien, erzählte ich von dem zerbrochenen Fenster nebenan, und er kam mit nach draußen, um es sich anzusehen. Als ich aber etwas von Abprallern andeutete, bekam er einen spöttischen Blick und fragte mich, wie alt ich sei. Wir hätten in der Schule Gewehrschießen geübt, antwortete ich. Er nickte unbeeindruckt und machte sich eine Notiz. Als er wieder zu seinen Kollegen hineinging, folgte ich ihm.

Die liebe Polly stand bei meinem Vater und hörte sich besorgt alles an. Ein Fotograf machte Aufnahmen. Dafür, daß niemand angeschossen worden war, dauerte das ganze Theater recht lange, und es ging auf zwei Uhr zu, bis ich endlich die Türen vorn und hinten absperren, die Riegel vorlegen und die Festbeleuchtung ausschalten konnte.

Mein Vater rutschte rückwärts im Sitzen die Treppe hinauf. Er wollte nicht mehr Hilfe als unbedingt nötig in Anspruch nehmen und quälte sich allein ins Bad und vom Bad ins Schlafzimmer, auf eins der beiden Einzelbetten. Für mich war eigentlich die Bettcouch in dem kleinen Wohnzimmer vorgesehen, aber ich landete schließlich halb angezogen und kein bißchen müde auf dem zweiten Bett, neben meinem Vater.

Vor knapp zwanzig Stunden war ich mit dem Fahrrad bei Mrs. Wells losgefahren, um in den sonnigen, begrasten Hügeln Galopp zu reiten. Ich war aus meinem alten Leben herausgerissen und in eine neue Welt verpflanzt worden, und minutenlang hatte ich befürchtet, ich könnte eine Kugel in den Rücken bekommen. Wie sollte ich da schlafen?

Ich knipste die Nachttischlampe aus.

Mein Vater sagte im Dunkeln: »Wieso bist du nicht weggelaufen, Ben?«

Nach kurzem Zögern erwiderte ich: »Wieso wolltest du denn, daß ich weglaufe?«

»Damit du nicht erschossen wirst.«

»Mhm. Aus dem Grund bin ich geblieben. Damit du nicht erschossen wirst.«

»Du hast dich dazwischengestellt ...?«:

»Immer noch besser als Babys tätscheln.«

»Ben!«

»Ich glaube, das war ein 22er Gewehr, wie man es zum Scheibenschießen nimmt«, sagte ich nach einer Weile. »Ein High-Speed-Geschoß wahrscheinlich. Das Geräusch kenne ich. Eine 22er Kugel bringt einen so leicht nicht um. Man müßte schon glatt in den Kopf oder ins Genick getroffen werden. Ich habe nur deinen Kopf abgeschirmt.«

Im anderen Bett war es still. Dann sagte er: »Ich hatte vergessen, daß du schießen kannst.«

»Ich war in der Schulmannschaft. Unser Schießlehrer war einer der landesbesten Scharfschützen.« Ich lächelte im Dunkeln. »Und du hast den Unterricht bezahlt.«

Kapitel 3

Am nächsten Morgen vor neun ging ich nach unten, um die Tür auf der Parkplatzseite aufzuschließen, weil dort ein Mann den Knopf der schrill tönenden Klingel strapazierte. Er war klein, dick, schwarzhaarig, stocksauer und hielt einen Schlüsselbund in der Hand.

»Wer sind Sie denn?« wollte er wissen. »Was tun Sie hier? Wieso ist die Tür verriegelt?«

»Benedict -«, setzte ich an.

»Was?«

»Juliard.«

Er starrte mich kurz an, dann huschte er an mir vorbei und begann sogleich mit der Sichtung des Durcheinanders, das nach den Ereignissen der Nacht in beiden Büroräumen zurückgeblieben war.

»Dann sind Sie wohl der Sohn«, sagte er und raffte Briefumschläge zusammen. »Um Sie abzuholen, hat George gestern den ganzen Tag vergeudet. Wenn Sie schon hier sind, machen Sie sich nützlich.« Er deutete auf die Unordnung. »Wo ist George überhaupt? Das Radio läuft heiß. Was ist heute nacht passiert?«

»Er ist oben. Hat sich den Fuß verrenkt. Und, ehm ... wer sind Sie?«

»Mervyn Teck, wer sonst?« Gereizt sah er in mein verständnisloses Gesicht. »Ich bin der Agent. Wissen Sie denn überhaupt nichts?«

»Nicht viel.«

»Ich leite den Wahlkampf hier. Ich soll George Juliard ins Parlament bringen. Den Rundfunknachrichten zufolge hat jemand auf ihn geschossen. Stimmt das?« Er schien unbesorgt und räumte weiter auf.

»Es kann sein«, sagte ich.

»Gut.«

»Hm?« machte ich.

»Gratiswerbung. Sonst ist Sendezeit für uns zu teuer.«

»Ach so.«

»Damit sind Titmuss und Whistle aus dem Rennen.«

»Wer?« fragte ich.

»Andere Kandidaten. Um die brauchen wir uns nicht mehr zu kümmern.«

Mein Vater kam hüpfend die Treppe herunter. »Morgen, Mervyn. Meinen Sohn haben Sie also schon kennengelernt?«

Mervyn warf mir einen wenig begeisterten Blick zu.

»Ein Glück, daß er da ist«, sagte mein Vater. »Er kann mich herumfahren.«

Auf der Fahrt von Brighton hatte ich ihm erzählt, daß ich ge-jobbt hatte, um Fahrstunden zu nehmen, und seit knapp fünf Wochen den Führerschein besaß.

»Gut«, hatte er gesagt.

»Aber ich bin seit der Prüfung noch nicht gefahren.«

»Alles zu seiner Zeit.« Jetzt ermahnte mich sein Pokerface, die fehlende Fahrpraxis für mich zu behalten. Kandidat und Agent, begriff ich, waren Partner, aber keine Freunde.

Eine staksige junge Frau mit strengem Haarschnitt und einer bunten Juliardrosette am Revers ihres grauen Powerkostüms tauchte auf. Sie wurde mir als Crystal Harley, Mervyn Tecks Sekretärin, vorgestellt, und wie ich im Lauf des Vormittags erfuhr, war sie neben Mervyn die einzige, die für die Wahlkampfarbeit bezahlt wurde. Alle anderen waren Freiwillige.