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«Sind es gute Erinnerungen?«

«Teils, teils. Das ist eben das Merkwürdige. Die guten sind schlecht, weil sie vorbei sind, und die schlechten sind gut, auch weil sie vorbei sind. Glaubst du, daß man im Gefängnis mit so etwas leben kann?«

«Ja«, sagte ich.»Es vertreibt die Zeit. Solange du so darüber denkst wie jetzt.«

Ich ging durch die Stadt, bis ich todmüde war. Ich ging an Na- taschas Haus vorbei, blieb vor einigen öffentlichen Telefonen stehen, aber ich rief nicht an. Ich hatte noch vierzehn Tage Zeit, dachte ich. Das schwerste war es immer, die erste Nacht zu über winden, weil sie einem in solchen Situationen nahe am Tode zu liegen schien. Was wollte ich denn? Einen bürgerlich rührenden Abschied, mit Küssen an der Gangway eines dreckigen Schiffes und dem Versprechen zu schreiben? War es nicht besser so? Wie hatte Melikow gesagt? Man sollte keine Erinnerungen mit sich herumschleppen. Sie waren ein schweres Gepäck, wenn man nicht so alt war, daß sie das einzige waren, was einem blieb. Und wie hatte ich selbst immer gedacht? Man sollte keine Erinnerungen züchten, sondern sich so weit davon weghalten, daß sie einen nicht wie Lianen im Urwald abwürgen konnten. Natascha hatte getan, was richtig war. Warum tat ich es nicht? Warum lief ich umher wie ein sentimentaler Schüler, in die miserablen Fetzen heulender Sehnsucht und Feigheit gekleidet, nicht fähig zum einen noch zum ändern? Ich spürte die weiche Nacht, fühlte die unge heure Stadt und anstatt locker auf dem Leben zu sitzen und sei nem Wehen zu folgen, irrte ich wie in einem Spiegelkabinett um her, nach einer Ausflucht suchend und immer nur wieder mir selbst.begegnend. Ich kam bei van Cleef vorbei und wollte nicht hineinsehen und zwang mich, stehenzubleiben. Ich sah den Schmuck der toten Kaiserin in der Juninacht und dachte daran, wie Natascha ihn getragen hatte — ein geliehener Schmuck mit einer geliehenen Frau in einem Falschmünzerdasein. Ich hatte da mals die Ironie in falscher Behaglichkeit genossen. Jetzt blickte ich auf das Geglitzer und wußte plötzlich nicht, ob ich nicht im Begriff war, einen schweren Irrtum zu begehen und einen Rest fliegenden Glücks gegen ein Bündel verstaubter und lächerlicher Vorurteile einzutauschen, die zu nichts weiter führen konnten als zu einem quichottcsken Ritt gegen Windmühlen, die nicht mehr da waren. Ich starrte auf die Schmuckstücke und wußte nicht, was ich tun sollte. Ich wußte nur, daß ich dieser Nacht entkom men mußte, und ich klammerte mich daran, daß ich noch zwei Wochen Zeit in New York hätte, ich klammerte mich an das Morgen und das Übermorgen wie an Rettungsringe. Ich mußte nur über diese Nacht hinwegkommen. Aber wie, wenn ich gerade in dieser Nacht noch Natascha erreichen konnte. Wenn sie darauf wartete, daß ich sie anrief. Ich stand da und flüsterte: Nein, nein, immer wieder, ich flüsterte es wirklich, ich sagte es so, daß ich es deutlich hören konnte, es war etwas, das ich einmal gelernt hatte, es hatte mir früher schon ab und zu geholfen, daß ich zu mir selbst sprach, eindringlich wie zu einem Kinde: Nein, nein, nein und: Morgen, morgen, morgen, und ich tat es jetzt wieder, monoton, als müßte ich mich beschwören und hypnotisieren. Nein, nein! Morgen, morgen, bis ich fühlte, daß es meine Erregung stumpf machte, und ich weitergehen konnte, langsam zuerst und dann fast keuchend, bis ich das Hotel erreichte.

Ich sah Natascha nicht wieder. Es mag sein, daß wir beide erwar tet hatten, der andere würde sich melden. Ich wollte es oft, aber jedesmal sagte ich mir vor, daß es zu nichts führen könne. Ich konnte nicht über den Schatten springen, der mein Dasein be gleitete, und ich erklärte mir immer wieder, daß es besser sei, etwas beerdigt zu lassen, so, wie es war, als sich noch weiter zu verletzen, denn auf etwas anderes würde es nicht hinauskommen. Ich hatte manchmal den Gedanken, daß Natascha mich vielleicht mehr geliebt hat, als sie je zugegeben hätte. Das machte mich atemlos und unruhig, aber es ging dann in der allgemeinen Un ruhe des Aufruhrs unter, der jeden Tag höher und höher am Horizont emporwuchs. Ich suchte Natascha, wenn ich auf der Straße war, aber ich traf sie nie. Ich beruhigte mich mit den törichtesten Mitteln, unter denen die Idee einer Rückkehr nach Amerika noch das geringste war. Melikow wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Ich war die letzten Tage allein. Silvers schenkte mir fünfhundert Dollar als Bonus.»Vielleicht sehe ich Sie in Paris«, sagte er.»Ich will im Herbst hin, einiges kaufen. Schreiben Sie mir. «Ich klammerte mich daran und versprach, ihm zu schreiben. Es tröstete mich, daß er nach Europa kam und aus einem so bequemen Grunde. Es machte Europa weniger mör derisch, als es mir erschien.

Als ich nach Europa zurüddtam, fand ich eine Welt vor, die ich nicht mehr kannte. Ich fand das Museum in Brüssel, aber nie mand konnte mir darüber Auskunft geben, was in der Zwischen zeit geschehen war. Man kannte noch den Namen des Mannes, der mich gerettet hatte; niemand aber wußte, was aus ihm ge worden war. Ich suchte einige Jahre lang. Ich suchte auch in Deutschland. Ich suchte nach den Mördern und nach meinem Vater. Ich dachte oft mit großem Schmerz an Kahns Worte, er hatte recht gehabt. Die schwerste Enttäuschung war die Rüde kehr, sie war eine Rückkehr in die Fremde, eine Rückkehr in

Gleichgültigkeit, versteckten Haß und Feigheit. Niemand erin nerte sich mehr daran, zur Partei der Barbaren gehört zu haben. Keiner übernahm die Verantwortung für das, was er getan hatte. Ich war nicht mehr der einzige mit einem falschen Namen. Es gab jetzt viele Hunderte, die rechtzeitig ihre Pässe umgetauscht hat ten und eine Emigration von Mördern bildeten. Die Besatzungs behörden waren gutwillig, aber ziemlich hilflos. Sie waren bei Auskünften auf deutsche Mitarbeiter angewiesen, die Angst vor späterer Rache haben mußten oder immer an den Ehrenkodex dachten, das eigene Nest nicht zu beschmutzen. Ich fand das Ge sicht aus dem Krematorium nicht wieder; niemand konnte sich an Namen erinnern; niemand an seine Taten; viele nicht einmal daran, daß Konzentrationslager existiert hatten. Ich stieß auf Schweigen, auf Mauern von Angst und Ablehnung. Man versuch te es damit zu erklären, daß das Volk zu müde geworden sei. Es habe selbst so viele Kriegsopfer und Tote gehabt. Jeder hatte selbst genug durchgemacht; man konnte sich nicht auch noch um andere kümmern. Die Deutschen waren kein Volk der Revolu tionen. Sie waren ein Volk von Befehlsempfängern. Der Befehl ersetzte das Gewissen. Er wurde die beliebteste Ausrede. Wer auf Befehl gehandelt hatte, war nicht verantwortlich.

Ich weiß nicht mehr, was ich in diesen Jahren alles getan habe. Es gehört auch nicht in diese Aufzeichnungen. Es war sonderbar, daß die Erinnerung an Natascha langsam immer stärker aufstieg. Es war kein Bedauern darin und keine Reue, aber ich wußte erst jetzt, was sie für mich gewesen war. Ich hatte es damals nicht be griffen, aber nun, wo alles andere von mir abfiel oder zu Ent- täuschungen, Ernüchterung und Irrwegen sich zusammendrängte, wurde es mir mehr und mehr klar. Es war, als schmelze man aus einem rohen Golderz das reine Metall hervor. Es hatte nichts mit meiner Enttäuschung zu tun, aber ich hatte angefangen, klarer zu sehen und Distanz zu gewinnen. Je weiter die Zeit zurück wich, um so bestürzender wurde die Erkenntnis, daß Natascha das wichtigste Erlebnis meines Lebens gewesen war, ohne daß ich es gewußt hatte. Es mengte sich keine Sentimentalität hinein, auch nicht das Bedauern, daß ich es zu spät erkannt hatte. Ich glaube vielmehr, daß, wenn ich es damals schon begriffen, Nata-

scha mich wahrscheinlich verlassen hätte. Meine Unabhängigkeit, die daher kam, daß ich sie zu leicht nahm, war wohl gerade das, was sie länger bei mir hielt. Ich dachte manchmal auch darüber nach, daß ich in Amerika hätte bleiben können, wenn ich vorher gewußt hätte, was in Europa auf mich wartete. Doch das waren Gedanken wie der Wind, sie wurden weder zu Tränen noch zu Verzweiflung, denn ich wußte, daß das eine nicht ohne das an dere möglich gewesen war, und danach ging eben das andere auch nicht mehr. Man kann nicht zurückkehren, nichts steht still, we der man selbst noch der andere. Alles, was übrigblieb, war manchmal ein Abend voll Schwermut, die Schwermut, die jeder Mensch fühlt, weil alles vergeht und er das einzige Tier ist, das es weiß und das ebenso weiß, daß das ein Trost ist, obschon es ihn nicht versteht.