Выбрать главу

«Unter welchen Umständen würden Sie eigentlich auswandern?«Darauf Remarque:

«Auswandern von wo? Ich bin in Deutschland geboren, dort aus gebürgert worden, habe einen amerikanischen Paß und lebe in der Schweiz. Sonst? Unter jeder Diktatur.«

Und die zweite, eigentlich flapsig-witzig gemeinte Frage hatte gelautet:

«In welchen Fällen würden Sie lügen?«

Darauf Remarque:

«Aus Barmherzigkeit. Und oft auch aus Mitleid.«

II

Der Hauptvorwurf, den ungeduldige Kulturkritiker, feinsinnige Ästheten, aber auch antikulinarische Wahrheitsfanatiker gegen Remarque erhoben haben lautet: Remarque verwandele alles in süffige Reißer. Unter seinen Händen seien Mord und Tod und Folter und KZ und Überleben-Wollen und Angst nur Stoff für Kolportage. Alles läse sich so süffig, so selbstverständlich, daß man auf den Gedanken komme, über die Schrecknisse des 20. Jahrhunderts werde im Stil eines Abenteuer-Romans berichtet. Also: aus dem Chronisten werde ein Karl May. An diesem Vor wurf ist natürlich, sonst hätte er nicht immer wieder erhoben werden können, etwas Wahres. Nur hängt diese Wahrheit nicht etwa mit einer Verfälschung von Fürchterlichkeiten zusammen, der Remarque sich niemals schuldig gemacht hat, sondern viel mehr mit einer Haltung. Mit dem Lesbarmachen des Fürchterli chen. Daß Remarque nicht verfälscht, daß er keinen rosaroten Optimismus vorgaukelt, bezeugen ja bereits die wütenden Nazi- Proteste gegen» Im Westen nichts Neues«. Im Mittelpunkt seiner späteren Bücher standen KZ-Greuel, Emigranten-Unglück in Paris (»Are de Triomphe«), Emigranten-Elend auf der Flucht (»Die Nacht von Lissabon«) und Emigranten-, ja Remigranten- Trostlosigkeit in Amerika (»Schatten im Paradies«).

Doch Remarque hatte begriffen oder zumindest sehr entschieden erfühlt, was zur Voraussetzung einer bestimmten Lese-Haltung gehört. Ein heimliches und hohes Lesevergnügen besteht nämlich eben darin, daß das Schlimmste noch nicht passiert sein kann, solange man vom Schlimmsten liest.

Solange überhaupt noch jemand die Möglichkeit und die Kraft hat, dem Weltstoff, wie fürchterlich er auch sei, irgendwie re flektierend, formend, antwortend gegenüberzutreten, so lange ist das Alleräußerste noch nicht eingetreten. Es sei noch nicht» am schlimmsten«, solange man sagen könne,»dies ist das Schlimm ste«, heißt es in Shakespeares» König Lear«. Solange man ein Musikstück hört, ein Theaterstück sieht, ein Bild betrachtet oder eben ein Buch liest, ist man gleichsam dem realen Zeitverlauf, dem unaufhörlichen Reproduktionszusammenhang des Daseins enthoben. Wer betrachtet, ist zwar keineswegs» interesselos«, aber im Moment doch» schicksallos«. Solange ich im Theater oder daheim im Sessel sitze, weiß ich, nur auf der Bühne oder im Buch wird gestorben, nur im Rahmen der Kunstform gibt es da Qual, Eifersucht, Tod, Alter. Während man, im sogenannten realen Leben, selber in diesen Schicksalszusammenhang gespannt ist, darf man jetzt entspannt dem Spannenden folgen. Andere sterben. Man steht außerhalb der Zeit, während der Kunstzeit. Das ist eine Freiheit der Kunst, eine tröstliche, unaustilgbare Genuß-Utopie vom» Dasein ohne Angst«. Natürlich läßt sich fragen, wie verbindlich oder unverbindlich eine solche betrach tende Haltung ist.

Diese Voraussetzung einer Suspendierung der realen Lebenszeit während der Lesezeit (man könnte sagen, für den Moment der Lektüre oder des Theaterabends wird der Empfangende zu einem Gott, der den Dingen zusieht, ohne an ihnen zu leiden) führt, wenn man sie hübsch spekulativ weiterdenkt, genauso zu jenem Vorwurf hin, der Remarque immer wieder gemacht wor den ist. Gerade wenn der Lesende virtuell schicksallos ist, liegt es nahe, ihn gleichsam kostenlose Einblicke in desto schlimmere Schicksale zu gewähren. Gerade weil im Parkett nicht gestorben wird, können sich auf der Bühne die Leichen häufen; gerade weil der Epiker einen ruhig-aufnahmebereiten Leser voraussetzen darf, kann er um so bedingungsloser von Schrecknissen berichten. Das fing bei Homer an und hört bei Handke nicht auf… Re marque hat daraus eine sehr wichtige, für den Autor anstren gende, aber darum den Leser auch desto mehr zur Identifikation bewegende Konsequenz gezogen. Er beschreibt eben nicht die ganze Welt, sondern er bleibt seinen Helden nah auf der Spur. Die epische Kamera-Einstellung ändert sich nicht. Und die Ge schichten haben mit dem Tod zu tun. Die Remarquesche Roman- Welt gestattet, daß Autor und Leser sich förmlich an die Fersen der Hauptfiguren heften — ohne Abschweifung, ohne retardierendes Moment, ohne netten aufklärenden Seitenblick — und dennoch keine Monotonie zu fürchten brauchen. Da ist immer nur» einer«, aber was für einer! Da ist immer die Angst, da war tet immer der Tod, da beruhigt immer der Roman.

III

Aber welche Konsequenzen hat eine solche Haltung? Man müsse auch das entsetzlichste Leben wie ein» Abenteuer «betrachten, wenn man nicht an Verbitterung sterben wolle, sagt Helen, die Heldin der» Nacht von Lissabon«. Um das zu tun, sei es nur nötig, von der Forderung nach Gerechtigkeit abzusehen, was Frauen ohnehin leichter falle als Männern. In der ersten Hälfte dieser Maxime liegt das Rezept für Erich Maria Remarques Welterfolg beschlossen.

In Remarques Roman» Die Nacht von Lissabon«(es ist eine Nacht des Jahres 1942) passiert einem Emigranten in hoffnungsloser Situation etwas Erstaunliches: Schiffskarte und Visum werden ihm geschenkt. Nur muß er dem Schenkenden zuhören. Daraus wird die Geschichte von einem Mann, der einst aus Deutschland floh, seine Frau ein paar Jahre später unter haar sträubend abenteuerlichen Umständen aus dem Diktaturstaat herausholte, mit ihr ein kurzes, wildes Transitleben führte, dann die Todkranke doch verlor — und der nun resigniert. Das Buch steckt voller trockener Elendsmaximen. Dem Entsetzlichen wird ein routiniertes:»So ist das also «abgetrotzt. Wie etwa Franz Werfel zu Beginn seines Romans» Das Lied von Bernadette «darauf hinweist, inwiefern Vater Soubirous keine Uhr benö tige —»Arme Leute haben die Zeit im Gefühl. Sie wissen auch ohne Zifferblatt und Glockenton, was die Uhr geschlagen hat«—, so liest man auch bei Remarque häufig einprägsame Kernsätze über die Not. Da die Polizei zu fürchten ist, erwägt die Gefährtin:»Männer allein sind verdächtiger als ein Mann mit einer Frau. «Darauf antwortet der Angesprochene dann bewun dernd:»Du lernst rasch. «Falsch wäre es zum Beispiel, in der Situation äußerster Gefährdung die Risiken zu ermessen.»Ich muß vorsichtig fahren«, sagt Helen,»ein Unfall und Polizei, das wäre alles, was uns noch fehlte!«Der Erzähler bemerkt da zu:»Ich antworte nicht, man redete draußen nicht von solchen Dingen; es zog sie herbei.«

Solche fabelhaft lesbaren Maximen über das» Draußen«— wo mit jenes Ausland gemeint ist, in dem antifaschistische Emigran ten von ausländischen Antifaschisten so behandelt wurden, als seien sie Faschisten — sind natürlich viel wirksamer als um fangreiche Beteuerungen. Wie man Old Shatterhand eminente Techniken ersinnen sieht, die ihm bei allen möglichen Gefahren helfen, so schauen wir auch den vom Schicksal geschlagenen Hel den Remarques dabei zu, wie sie ihrerseits gleichsam darwini- stische Abwehreigenschaften hervorbringen, um durchzukom men:»Man entwickelt im Laufe der Zeit eine Art sechsten Sinn für Gefahr.«

Es wäre nun nicht nur falsch, sondern auch dumm, sich über diesen Autor modernistisch zu erheben — so wie es nicht nur dumm ist, sondern auch falsch, ihn gegen die Anstrengungen jüngerer Erzähler auszuspielen. Freilich neigten feinsinnige Lite raten schon von jeher dazu, sich im Fall Remarque zu verschät zen. Der alte S. Fischer lehnte einst» Im Westen nichts Neues «ab. Andere Lektoren zeigten sich gleichfalls spröde. Dann aber kam dieser erfolgreichste Roman über den Ersten Weltkrieg her aus. Über Nacht war ein Autor da, dessen Name sich überall sofort in Gold verwandelte. Als ein Autorenfürst konnte Re marque Deutschland verlassen. Sogar im konservativen Eng land, das sich nicht gern von Kontinentalen imponieren läßt, wußte selbst der zurückhaltendste Verleger: Remarque kann man unbesehen drucken. 40 000 Exemplare» gehen «ohne wei teres. In Indien erschien» Im Westen nichts Neues «genauso wie am Nordkap oder sonstwo… Manche Übersetzungen entstell ten das nicht umzubringende Buch zu reiner Unkenntlichkeit.