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Ich drehte mich rasch um und ging zurück, verwirrt und tief auf gerührt, ich blickte nicht mehr umher, und ich war fast atemlos, als ich das Hotel vor mir sah — nicht breit und waagrecht und augenfällig wie andere Hotels, sondern schmal und unauffällig. Ich trat durch die Tür, die durch falsche Marmorleisten verun staltet wurde, und sah Melikow hinter der Theke in einem Schau kelstuhl dösen. Er öffnete die Augen, die für einen Moment lid los wirkten wie die eines alten Papageien, dann wurden sie blau und hell.

«Spielen Sie Schach?«sagte er und erhob sich.

«Wie jeder Emigrant.«

«Gut. Ich hole den Wodka.«

Er ging die Treppe hinauf. Ich sah mich um. Mir war bereits, als wäre ich nach Hause gekommen. Wer nirgendwo zu Hause ist, spürt das leicht.

II

Mein Englisch verbesserte sich rasch, und nach vierzehn Tagen hatte ich bereits die Kenntnisse eines Fünfzehnjährigen. Ich saß morgens einige Stunden lang mit einer Grammatik im roten Plüsch des Hotels Reuben herum und suchte nachmittags jede sich bietende Gelegenheit zu englischer Konversation. Ich ging dabei ohne Scham und Scheu vor. Als ich merkte, daß ich nach zehn Tagen, die ich mit Melikow verbracht hatte, einen russischen Akzent bekam, wandte ich mich an Gäste und Angestellte des Hotels. Ich bekam nacheinander einen deutschen, jüdischen, fran zösischen und zum Schluß, als ich ganz sicher glaubte, bei den Aufwartefrauen und Stubenmädchen auf waschechte Amerika nerinnen gestoßen zu sein, einen schweren Brooklyn-Akzent.

«Du mußt ein Verhältnis mit einer jungen Amerikanerin anfan gen«, sagte Melikow, mit dem ich mich inzwischen duzte.

«Aus Brooklyn?«fragte ich.

«Lieber aus Boston. Dort spricht man am besten.«

«Warum nicht mit einer Lehrerin aus Boston? Das wäre nodi ökonomischer.«

«Dieses Flotel ist leider eine Karawanserei. Hier fliegen die Ak zente umher wie Typhusbazillen, und du hast leider nur ein gutes Ohr für das Extreme, aber gar keines für das Normale. (Jefühle würden da vielleicht helfen.«

«Wladimir«, sagte ich.»Die Welt verändert sich mir ohnehin

schon rapide genug. Alle paar Tage wird mein englisches Ich ein Jahr älter, zu meinem Bedauern entzaubert sich dabei auch die Welt dieses Ichs. Je mehr ich verstehe, desto mehr schwindet das Geheimnis. Noch ein paar Wochen und meine beiden Ichs halten sich die Waage. Das amerikanische ist dann ebenso ernüchtert wie das europäische. Laß mir deshalb Zeit! Auch mit den Akzen ten. Ich möchte meine zweite Kindheit nicht zu schnell verlie ren.«

«Das wirst du nicht. Vorläufig hast du erst den geistigen Hori zont eines melancholischen Gemüsehändlers. Des Gemüsehänd lers an der Ecke, Annibale Balbo. Du gebrauchst sogar schon seine italienischen Sprachbrocken; sie schwimmen wie Fleisch stücke in deiner englischen Minestrone herum.«

«Gibt es auch normale, echte Amerikaner?«

«Natürlich. Aber New York ist der große Einfallshafen der Emigranten, der irischen, italienischen, deutschen, jüdischen, armenischen, russischen und noch einem Dutzend anderer. Wie sagt man bei euch: Hier bist du'Mensch, hier darfst du’s sein? Hier bist du Emigrant, hier darfst du’s sein. Dieses Land ist von Emigranten gegründet worden. Wirf also deine europäischen Minderwertigkeitskomplexe ab. Hier bist du wieder Mensch. Nicht mehr ein wundes Stück Fleisch, das an einem Paß klebt.«

Ich blickte vom Schachbrett auf.»Das ist wahr, Wladimir«, sagte ich langsam.»Wir wollen sehen, wie lange es dauert.«

«Glaubst du denn nicht, daß es dauert?«

«Wie könnte ich?«

«Was glaubst du eigentlich?«

«Daß alles immer schlimmer wird«, sagte ich.

Jemand hinkte in den Vorraum. Wir saßen im Halbdunkel, und ich konnte den Mann nur ungenau sehen, aber sein merkwürdi ges Hinken, in einer Art von Dreivierteltakt, fiel mir auf und er innerte mich vage an einen Bekannten.»Lachmann«, sagte ich halblaut.

Der Mann blieb stehen und blickte zu mir herüber.»Lachmann!«wiederholte ich.

«Ich heiße Merton«, sagte der Mann.

I cli knipste das Licht an, das trostlos gelb und blau* aus einem bcsdieidenen Lüster des schlechtesten Jugendstils an der Decke tropfte.»Mein Gott, Robert«, rief er überrascht.»Du lebst? Ich dachte, du wärst längst tot!«

«Das dachte ich audi von dir! Idi habe dich an deinem Schritt wiedererkannt.«

«An meinem Trochäen-Gehinke?«

«An deinem Walzerschritt, Kurt. Kennst du Melikow?«»Natürlich kenne ich ihn.«

«Wohnst du etwa hier?«

«Nein. Aber ich komme manchmal her.«

«Und du heißt jetzt Merton?«

«Ja. Und du?«

«Ross. Der Vorname stimmt noch.«

«So trifft man sich wieder«, sagte Ladimann mit einem dünnen I — Schein.

Wir sdiwiegen beide. Es war die alte Verlegenheitspause zwi- schcn Emigranten. Man wußte nidit, wie weit man fragen konn te. Man wußte nicht, wer tot war.

«Hast du noch etwas von Cohn gehört?«sagte ich dann.

Audi das war die alte Technik. Man fragte zuerst vorsichtig nach 1,euten, die einem nidit sehr nahegestanden haben.

«Er ist in New York«, erwiderte Lachmann.

«Er auch? Wie ist er herübergekommen?«

«Wie sind wir alle herübergekommen? Durdi hundert Zufälle. Keiner von uns war auf der von den Amerikanern aufgestellten I iste jener prominenten Intellektuellen, die gerettet werden soll ten.«

Melikow drehte das Licht wieder ab und holte eine Flasche unter der Theke hervor.»Amerikanischer Wodka«, sagte er.»Ähnlich wie kalifornischer Bordeaux und Burgunder aus San Francisco. Oder Rheinwein aus Chile. Salut. Einer der Vorteile der Emi gration ist, daß man so oft Absdiied nehmen muß und dann ein Wiedersehen feiern kann. Gibt einem die Illusion eines langen I.ebens.«

Weder Lachmann nodi ich antworteten. Melikow kam von einer anderen Generation — der von 1917. Was uns noch brannte, war

für ihn schon Erinnerung geworden.»Salut, Wladimir«, sagte ich schließlich.»Warum sind wir nicht alle als Jogis geboren worden?«»Ich wäre schon zufrieden gewesen, nicht in Deutsch land als Jude auf die Welt zu kommen«, erklärte Lachmann- Merton.

«Ihr seid die Vorhut der Weltbürger«, erwiderte Melikow unge rührt.»Benehmt euch zumindest wie Pioniere. Man wird euch einmal Denkmäler setzen.«

«Wann?«sagte Lachmann.

«Wo?«fragte ich.»In Rußland?«

«Auf dem Mond«, erklärte Melikow und ging zur Registrier theke, um einen Sddüssel herauszugeben.

«Ein Witzbold«, sagte Lachmann und sah hinter ihm her.»Ar beitest du für ihn?«

«Was?«

«Mädchen. Gelegentlich etwas Morphium und dergleichen. Wet ten auch, glaube ich.«

«Bist du deswegen hier?«

«Nein. Ich bin verrückt nach einer Frau. Stell dir das vor: Sie ist fünfzig, aus Puerto Rico, katholisch und hat nur einen Fuß. Der andere ist ihr abgefahren worden. Sie hat irgend etwas mit einem Mexikaner. Der Mexikaner ist ein Zuhälter. Für fünf Dollar würde er sogar das Bett für uns madien. Aber sie will nicht. Ab solut nicht. Sie glaubt, daß Gott aus einer Wolke zuschaue. Auch nachts. Ich habe ihr gesagt, Gott sei kurzsichtig; seit langem. Nichts zu machen. Aber sie nimmt Geld. Und verspricht. Und lacht dann. Und verspridit wieder. Was sagst du dazu? Bin ich deswegen nach Amerika gekommen? Es ist trostlos!«