Выбрать главу

«Ich muß. Er ist alles, was ich habe. Wenn ich zugebe, daß er nicht echt ist, setzt man mich ins Gefängnis.«

«Das vielleicht nicht mehr. Aber er hilft Ihnen auch nichts. Haben Sie heute abend etwas vor?«

«Natürlich nicht.«

«Holen Sie mich um neun Uhr ab. Wir brauchen Hilfe. Es gibt einen Platz, wo wir sie finden.«

* * *

Das runde Gesicht mit den roten Backen, den runden Augen und der wilden Frisur darüber glänzte wie ein freundlicher Mond.»Robert«, sagte Betty Stein.»Mein Gott, wo kommen Sie denn her? Und seit wann sind Sie hier? Warum habe ich nichts von Ihnen gehört? Sie hätten sich doch melden können! Aber natürlich, Sie haben Besseres zu tun, als an mich zu denken. Typisch, für…«

«Sie kennen sich?«fragte Kahn.

Ich konnte mir nicht denken, daß jemand, der auf der Völker wanderung war, Betty Stein nicht kannte. Sie war die Mutter der Emigranten, ebenso wie sie vorher in Berlin die Mutter jener Schauspieler, Maler und Schriftsteller gewesen war, die noch keinen Erfolg hatten. Sie hatte ein Herz, das vor Freundschaft überfloß — wenn man es anerkannte. Es war eine Freundschaft für alle, die so umfassend war, daß sie etwas gutmütig Tyrannisches hatte. Man gehörte ihr oder war gegen sie.

«Sie sehen, daß wir uns kennen«, sagte ich zu Kahn.»Wir haben uns einige Jahre nicht gesehen, und unter der Tür macht sie mir bereits Vorwürfe. Sie kann eben nichts gegen ihr russisches Blut tun.«

«Ich bin in Breslau geboren«, erklärte Betty Stein.»Und ich bin immer noch stolz darauf.«

«Man hat solche prähistorische Vorurteile«, sagte Kahn gelassen.»Es ist gut, daß Sie sich kennen. Unser Freund Ross braucht Beistand und Rat.«

«Ross?«

«Ross, Betty«, sagte ich.

«Ist er tot?«

«Ja, Betty. Und ich habe ihn beerbt.«

«Ich verstehe.«

Ich erklärte ihr meine Lage. Sie war sofort mit Eifer dabei, etwas zu tun, und besprach die Möglichkeiten mit Kahn, der als Held hier immer noch großen Respekt genoß. Ich blickte mich währenddessen um. Das Zimmer war nicht groß, aber es war bereits dem Charakter Bettys angepaßt. An den Wänden waren Photographien mit Heftzwecken befestigt, alles Bilder mit über schwenglichen Widmungen. Ich las die Namen, manche ihrer Träger waren bereits tot. Sechs waren darunter, die nicht mehr aus Deutschland herausgekommen waren, einer, der zu rückgegangen war.»Warum haben Sie denn das Bild von För ster auch in einem Trauerrahmen?«fragte ich.»Er lebt doch noch.«

«Weil er zurückgegangen ist. «Betty wandte sich mir zu.»Wissen Sie, warum er zurückgegangen ist?«

«Weil er kein Jude war und Heimweh hatte«, sagte Kahn.»Und kein Englisch konnte.«

«Weil es in Amerika keinen Vogerlsalat gibt«, verkündete Betty triumphierend.»Das hat ihn melancholisch gemacht.«

Gedämpftes Gelächter rundum. Ich kannte diese halb ironischen und halb verzweifelten Witze der Emigranten. Es gab sie auch über Göring, Goebbels und Hitler.»Weshalb haben Sie das Bild dann nicht einfach heruntergenommen?«fragte ich.

«Weil ich ihn trotzdem liebe, und weil er ein großer Schauspieler ist.«

Kahn lachte.»Betty ist immer unparteiisch«, sagte er.»Wenn das alles einmal zu Ende ist, wird sie die erste sein, die bei unseren früheren Freunden, die inzwischen in Deutschland antisemitische Bücher geschrieben haben und Obersturmführer geworden sind, feststellt, daß sie es nur getan haben, um Juden zu retten oder Schlimmeres zu verhüten!«Er klopfte ihr auf den fleischigen Nacken.»Ist es nicht so, Betty?«

«Wenn die ändern zu Schweinen werden, brauchen wir uns doch nicht schweinisch zu benehmen«, entgegnete Betty etwas spitz.

«Das ist es ja, womit sie rechnen«, erwiderte Kahn gelassen.»So wie sie am Ende des Krieges wieder damit rechnen, daß die Amerikaner nach dem letzten Schuß sofort wieder die Züge mit Speck, Butter und Fleisch schicken für die armen Deutschen, die sie doch nur vernichten wollten.«

«Was meinen Sie, was die Deutschen tun würden, wenn sie den Krieg gewännen? Auch Speck verteilen?«fragte jemand und hustete.

Ich antwortete nicht; ich kannte diese Gespräche im Überfluß. Ich sah mir weiter die Bilder an.

«Bettys Totenliste«, sagte eine zierliche, sehr blasse Frau, die unter den Fotos auf einer Bank saß.»Das da ist Hastenecker.«

Ich erinnerte mich an Hastenecker. Die Franzosen hatten ihn mit allen Emigranten, die sie erwischen konnten, in ein Internierungslager gesperrt. Er war Schriftsteller und wußte, daß er verloren war, wenn die Deutschen ihn faßten. Er wußte auch, daß die Internierungslager von Gestapo-Beamten durchsucht würden. Als die Deutschen nur noch ein paar Stunden entfernt waren, beging er Selbstmord.

«Der alte französische Schlendrian«, sagte Kahn bitter.»Sie meinen es zwar nicht so, aber der andere geht dabei drauf.«

Ich erinnerte mich, daß Kahn in einem Lager den Kommandanten dazu gebracht hat, fünf Emigranten zu entlassen. Er hatte ihm so zugesetzt, daß der Mann, der bis dahin seine Offiziers ehre wie einen Schild vor seine Unentschlossenheit gehalten hatte, nachgab und die Flüchtlinge, die verloren gewesen wären, nachts freiließ. Es war schwieriger als sonst, weil im Lager auch einige Nazis waren. Kahn überzeugte den Kommandanten zuerst, daß er die Nazis freilassen müsse, andernfalls würde er von der Gestapo, wenn sie sein Lager prüfe, verhaftet werden. Danach benutzte er die Entlassung der Nazis als Druckmittel gegen den Kommandanten und erklärte, die Angelegenheit in Vichy bekanntzugeben. Er nannte das» moralische Erpressung in Etap pen«. Es wirkte.

«Wie sind Sie aus Frankreich herausgekommen?«fragte ich Kahn.

«Auf die Weise, die damals normal war. Die groteske. Die Gestapo hatte allmählich Wind bekommen. Eines Tages half mir meine Schnauze nicht mehr weiter, auch nicht mehr der fragwürdige Titel eines Vizekonsuls. Ich wurde verhaftet und mußte mich ausziehen. Man wollte auf die alte Weise feststellen, ob ich ein Jude, ob ich beschnitten sei. Ich weigerte mch, solange ich nur konnte, ich erklärte, Tausende von Christen seien beschnitten, in Amerika praktisch fast alle Männer. Je mehr Ausreden ich suchte, desto zufriedener feixten die Jäger. Sie hatten mich. Es machte ihnen Spaß, mich zappeln zu sehen. Schließlich, als ich verzweifelt schwieg, sagte der Kommandeur, ein Oberlehrer mit Brille, zynisch: >Und nun, du verfluchtes Judenschwein, herunter mit der Hose, zeig dein beschnittenes Ding vor! Dann werden wir es abschneiden und dir zu fressen geben.< Seine Untergebenen, gutaussehende blonde Männer, lachten begeistert. Ich zog mich aus, und sie erstarrten beinahe: ich war nicht beschnitten. Mein Vater war ein aufgeklärter Jude gewesen und hatte diesen Brauch im gemäßigten Klima nicht für notwendig gehalten. «Kahn lächelte.»Sie sehen den Trick. Hätte ich mich sofort aus gezogen, hätte es keinen großen Eindruck gemacht. So waren sie maßlos verblüfft und etwas geniert. >Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?< fragte der Oberlehrer.

>Was?<

>Daß Sie keiner sind.<

Zum Glück waren zwei der Nazis, die auf meine Veranlassung entlassen worden waren, bei dem Posten gelandet, um nach Deutschland zurückgeschickt zu werden. Wieder- eine der Grotesken, ohne die wir längst tot wären. Sie schworen Stein und Bein für mich, ich war ihr Freund. Ich hatte für sie etwas getan. Das gab den Ausschlag. Da ich zunehmend drohender und schweigsamer wurde und ein paar Namen fallen ließ, taten sie nicht das, was ich befürchtete: sie gaben mich nicht an eine höhere Stelle weiter. Sie hatten Angst, wegen des Mißverständnisses an gebrüllt zu werden. So waren sie fast dankbar, als ich versprach, nichts daraus zu machen, und sie ließen mich erleichtert laufen. Ich lief sehr weit, bis nach Lissabon. Man soll wissen, wann man nichts mehr riskieren kann. Es gibt da ein Gefühl, das der ersten leichten Attacke von Angina pectoris ähnlich ist. Man hat vorher stärkere Beklemmungen gehabt, aber dieses Gefühl ist anders, und man tut sehr gut daran, ihm zu folgen. Die nächste Attacke kann tödlich sein.«