Scarrs Tod hatte Mendel Angst eingejagt. Er ließ sich von Smiley versprechen, daß er nach seiner Entlassung aus dem Spital nicht in die Bywater Street gehen würde. Wenn sie einiges Glück hätten, dann würden die anderen ja sowieso denken, er wäre tot. Scarrs Tod bewies natürlich eine Tatsache: Der Mörder war noch immer in England und noch immer bemüht, aufzuräumen. »Wenn ich wieder gesund bin«, hatte Smiley gestern abend gesagt, »dann müssen wir ihn wieder aus seiner Höhle locken. Ein paar Brocken Käse als Köder auslegen.« Mendel war es klar, wer dieser Käse sein würde: Smiley selbst. Natürlich, wenn sie mit dem Motiv recht hatten, dann gäbe es auch noch einen anderen Käse: Fennans Frau. Es spricht tatsächlich nicht sehr für sie, dachte er grimmig, daß sie noch nicht umgebracht worden ist. Er schämte sich über sich selbst und wendete seine Gedanken anderen Dingen zu. Wie zum Beispiel wieder Smiley.
Ein merkwürdiger kleiner Bursche war dieser Smiley. Er erinnerte Mendel an einen dicken Jungen, mit dem er in der Schule Fußball gespielt hatte. Konnte nicht laufen, konnte nicht schießen, war blind wie eine neugeborene Katze, aber er spielte wie der Teufel und war erst zufrieden, wenn er sich in Stücke zerrissen hatte. Auch geboxt hatte er. Ging ohne Deckung mit geschwungenen Armen auf einen los und brachte sich halb um, bis der Schiedsrichter abpfiff. War übrigens auch ein gescheiter Bursche gewesen.
Mendel hielt bei einem Café am Straßenrand, trank eine Tasse Kaffee, aß ein Brötchen und fuhr dann nach Weybridge hinein. Das Repertoire-Theater lag in einer Einbahnstraße, die von der Hauptstraße ausging und in der man nicht parken konnte. Endlich stellte er den Wagen bei der Eisenbahnstation ab und ging in die Stadt zurück.
Der Haupteingang des Theaters war geschlossen. Mendel ging um das Haus herum auf die Seite, wo die aus Backstein gemauerten Arkaden waren. Der grüne Flügel der offenen Tür war eingehängt. Innen waren Riegel angebracht, und es stand mit Kreide »Bühneneingang« daraufgekritzelt. Eine Glocke gab es nicht. Ein schwacher Kaffeegeruch drang aus dem dunkelgrünen Gang hinter der Tür. Mendel ging durch den Eingang und den Korridor entlang, an dessen Ende er eine Steintreppe fand, die ein eisernes Geländer hatte und zu einer weiteren grünen Tür führte. Der Geruch von Kaffee war jetzt stärker, und er hörte Stimmen.
»Ist doch Blödsinn, Darling, ganz offen gesagt. Wenn die Kulturgeier in dem wonniglichen Surrey drei Monate hintereinander Barrie haben wollen, bitte sehr, sollen sie, sag ich. Entweder Barrie oder >Ein Kuckuck im Nest<, schon das dritte Jahr, und meiner bescheidenen Ansicht nach macht Barrie das Rennen um eine halbe Kopflänge«, sagte die Stimme einer Frau in mittleren Jahren.
Eine klägliche Männerstimme antwortete: »Also Ludo kann ja immerhin den Peter Pan spielen, nicht wahr, Ludo?«
»Kleines Mistvieh, kleines Mistvieh«, sagte eine dritte Stimme, auch eine männliche, und Mendel machte die Tür auf.
Er stand neben der Bühne in der Kulisse. Neben ihm, zur linken Hand, war eine dicke Ebonitplatte mit ungefähr einem Dutzend Schaltern an einem Holzrahmen befestigt, und davor stand ein absurder Rokokostuhl mit Vergoldung und Stickereien für die Souffleuse und Mädchen für alles.
In der Mitte der Bühne saßen zwei Männer und eine Frau auf Fässern, rauchten und tranken Kaffee. Die Szene stellte das Deck eines Schiffes dar. Ein Mast mit Takelage und Strickleitern nahm die Mitte der Szene ein, und eine Kanone aus Pappe wies trostlos gegen einen Prospekt von Meer und Himmel.
Die Konversation stockte abrupt, als Mendel auf der Bühne erschien. Jemand murmelte: »Um Gottes willen, der steinerne Gast«, und sie sahen ihm alle entgegen und kicherten.
Die Frau sprach zuerst: »Suchen Sie jemanden, lieber Freund?«
»Entschuldigen Sie, daß ich so hereinplatze. Ich komme, weil ich Mitglied Ihres Theaterklubs werden möchte.«
»Ach ja, natürlich. Wie nett«, sagte sie, stand auf und ging ihm entgegen. »Das ist wirklich sehr nett.« Sie nahm seine linke Hand in ihre beiden, drückte sie, trat dann zurück und breitete ihre Arme aus. Es war ihre hausfrauliche Geste - Lady Macbeth empfängt Duncan. Sie neigte den Kopf mädchenhaft zur Seite, ergriff wieder seine Hand und geleitete ihn über die Bühne in die Kulisse auf der anderen Seite. Eine Tür führte in ein kleines Büro, in dem überall alte Programme und Plakate verstreut lagen, Schminkstifte, Perücken und mit Flitter besetzte Marineuniformen.
»Haben Sie unsere diesjährige Pantomime schon gesehen? >Die Schatzinsel.< Wirklich ein sehr befriedigender Erfolg. Und so viel mehr dran als an diesen vulgären Märchen, finden Sie nicht?«
Mendel sagte: »Ja, nicht wahr.« Er hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie redete. Dann fiel sein Blick auf einen Stoß Rechnungen, die ziemlich nett geordnet von einer großen Klammer, die die Form des Kopfes einer Bulldogge hatte, zusammengehalten wurden. Die oberste war eine für Mrs. Ludo Oriel und vier Monate überfällig.
Sie sah ihn durch ihre Brille gescheit an. Sie war klein und dunkelhaarig, mit Furchen am Hals und viel Make-up. Die Falten unter ihren Augen waren mit Schminke verdeckt worden, aber die Wirkung hatte nicht angehalten. Sie trug weite lange Hosen und einen dicken Pullover, der über und über mit Temperafarben bespritzt war. Sie rauchte unaufhörlich. Ihr Mund war sehr breit, und in der Mitte, genau unter der Nase, hatte sie die Zigarette stecken, wodurch ihre Lippen eine übermäßig konvexe Kurve bildeten, die den unteren Teil ihres Gesichtes verzerrte und ihr einen übellaunigen, ungeduldigen Ausdruck gab. Mendel hatte gedacht, daß sie eventuell schwierig und gewitzt sein würde. Es war eine Erleichterung, festzustellen, daß sie ihre Rechnungen nicht zahlen konnte.
»Sie wollen also dem Klub beitreten, nicht wahr?«
»Nein.«
Sie bekam einen Wutanfalclass="underline" »Wenn Sie wieder einer von den verfluchten Lieferanten sind, dann können Sie absegeln. Ich habe gesagt, daß ich zahlen werde, und das werde ich auch, nur belästigen Sie mich nicht ununterbrochen. Wenn ihr bei den Leuten ausstreut, daß ich pleite bin, dann werde ich es sein, und ihr werdet die Verlierer sein, nicht ich.«
»Ich bin kein Gläubiger, Mrs. Oriel. Ich bin hergekommen, um Ihnen Geld anzubieten.«
Sie horchte auf.
»Ich arbeite für einen Scheidungsanwalt. Ein reicher Klient. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen. Wir sind bereit, für Ihren Zeitverlust zu zahlen.«
»Du lieber Himmel«, sagte sie erleichtert. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Sie lachten beide. Mendel blätterte der Reihe nach fünf Pfundnoten auf den Stoß von Rechnungen.
»Also«, sagte Mendel, »wie sieht die Liste Ihrer Mitglieder aus? Welche Vorteile bietet der Beitritt?«
»Ja also, wir trinken jeden Vormittag genau um elf wässerigen Kaffee auf der Bühne. Die Mitglieder dürfen dabei sein und sich unter das Ensemble mischen, wenn wir von11.oo bis 11.45 zwischen den Proben eine Pause machen. Was sie konsumieren, bezahlen sie natürlich, aber die Teilnahme ist ausschließlich auf die Mitglieder beschränkt.«
»Aha.«
»Das ist wahrscheinlich das, was Sie interessiert. Es scheinen nur warme Brüder und mannstolle Weiber zu kommen.«
»Kann sein. Was gibt es noch?«
»Alle vierzehn Tage setzen wir ein neues Stück auf den Spielplan. Die Mitglieder können für irgendeinen Tag der Spieldauer Plätze bestellen - zum Beispiel für den zweiten Mittwoch der Spieldauer und so weiter. Wir bringen immer am ersten und dritten Montag jedes Monats ein neues Stück heraus. Die Vorstellung beginnt um halb acht, und wir halten die Klubbestellungen bis sieben Uhr zwanzig reserviert. Das Mädchen an der Kasse hat den Sitzplan und streicht jeden Platz aus, der verkauft wird. Die bestellten Sitze der Klubmitglieder sind rot angehakt und werden erst zum Schluß verkauft.«