»Ein Taxi?« unterbrach ihn Smiley. »Sie muß ja vollständig wahnsinnig sein!«
»Sie ist ganz außer sich. Für eine Frau geht sie sowieso schon schnell, verstehen Sie, aber wie sie da über den Bahnsteig gefegt ist, alle Achtung! Sie ist beim Broadway ausgestiegen und zum Sheridan-Theater gegangen. Hat die Türen zur Kasse der Reihe nach probiert, aber sie waren zu. Einen Augenblick hat sie gezögert und ist dann zurückgegangen in ein Café ein paar hundert Meter weiter die Straße hinunter. Hat sich Kaffee bestellt und sofort bezahlt. Etwa vierzig Minuten später ist sie zum Theater zurück. Jetzt waren die Kassen offen, und ich bin hinter ihr hineingeschlüpft und habe mich auch angestellt. Sie kaufte zwei Sitze für nächsten Donnerstag: Parkett ganz hinten, Reihe T, Platz Nummer 27 und 28. Dann ist sie wieder hinaus aus dem Theater, hat eines der Billetts in einen Briefumschlag getan, ihn zugeklebt und in einen Briefkasten geworfen. Die Adresse konnte ich nicht sehen, aber es war eine Sechspennymarke drauf.«
Smiley saß sehr still da. »Ob er wohl kommen wird?« sagte er. »Ich bin gespannt, ob er erscheint.«
»Ich habe Mendel beim Theater getroffen«, sagte Guillam. »Er ist ihr bis zum Café nachgegangen und hat mich dann angerufen. Dann ist er auch hineingegangen.«
»Ich hatte selber Lust auf eine Tasse Kaffee«, fuhr Mendel fort. »Mr. Guillam hat mich dann gefunden. Als ich mich anstellen ging, ließ ich ihn im Café, und er ist dann erst ein wenig später herausgekommen. Es war alles Maßarbeit, und keine Pannen. Sie hat den Kopf verloren, das ist sicher. Sieht sich nicht vor.«
»Was hat sie dann gemacht?« fragte Smiley.
»Schnurgerade zurück zur Victoria-Station. Dort haben wir sie dann laufen lassen.«
Eine Weile blieben sie stumm, und dann sagte Mendeclass="underline" »Also, was tun wir jetzt?«
Smiley zwinkerte und blickte ernst in Mendels graues Gesicht.
»Theaterkarten bestellen für die Donnerstagvorstellung im Sheridan.«
Sie gingen, und er war wieder allein. Er hatte noch immer nicht die Berge von Briefen durchgesehen, die sich während seiner Abwesenheit angehäuft hatten. Rundschreiben, Kataloge von Blackwells, Rechnungen und die übliche Kollektion von Reklame für Seifen, tiefgekühlte Erbsen, Fußballtotoscheinen und so weiter. Es waren auch einige Privatbriefe dabei. Er nahm alles ins Wohnzimmer mit, setzte sich in einen Armstuhl und begann zuerst einmal die persönlichen Briefe aufzumachen. Einer war von Maston, und er las ihn fast mit Verlegenheit.
»Mein lieber George,
es tat mir leid, als ich von Guillam hörte, daß Sie einen Unfall hatten, und ich hoffe zuversichtlich, daß Sie sich schon wieder ganz erholt haben. Sie erinnern sich vielleicht, daß Sie mir in der Hitze des Gefechts damals vor Ihrem Unglücksfall ein Rücktrittsgesuch geschickt haben, und ich möchte Ihnen nur mitteilen, daß ich es natürlich nicht ernst nehme. Manchmal verlieren wir den Sinn für die Perspektive der Dinge, wenn die Ereignisse auf uns einstürmen. Aber alte Kampfgenossen, George, wie wir sind, kann man nicht so leicht von der Spur abbringen. Ich freue mich darauf, Sie wieder bei uns zu sehen, sobald Sie gesund sind, und inzwischen betrachten wir Sie weiter als ein altes, treues Mitglied unseres Stabes.«
Smiley legte den Brief weg und wandte sich dem nächsten zu. Im ersten Augenblick erkannte er die Handschrift nicht und starrte einen Moment verständnislos auf die Schweizer Marke und das Briefpapier eines teuren Hotels. Plötzlich wurde er ein wenig schwach, der Brief verschwamm vor seinen Augen, und er hatte kaum die Kraft in den Fingern, den Umschlag aufzureißen. Was wollte sie? Wenn es Geld war, dann konnte sie alles haben, was er besaß. Sein Geld konnte er ja ausgeben, wie es ihm paßte. Wenn es ihm Spaß machte, es auf Ann zu verschwenden, dann würde er es tun. Sonst gab es nichts, was er ihr hätte geben können. Sie hatte es schon vor langer Zeit selber genommen. Seinen Mut, seine Liebe, sein Mitgefühl, alles hatte sie munter in ihrer kleinen Juwelenkassette mitgenommen, um damit gelegentlich einmal am Nachmittag, wenn die Sonne Kubas heiß herunterbrannte, zu tändeln. Sie ließ diese Dinge vielleicht vor den Augen ihres neuen Liebhabers in ihren Fingern baumeln und verglich sie mit ähnlichen kleinen Schmuckstücken, die ihr andere vorher oder später gebracht hatten.
»Mein liebster George,
ich möchte Dir ein Angebot machen, das kein Gentleman annehmen könnte. Ich möchte zu Dir zurückkommen.
Ich bleibe bis Ende dieses Monats im Baur-au-Lac in Zürich. Schreib mir.
Ann«
Smiley nahm den Umschlag und drehte ihn um: »Madame Juan Alvida.« Nein, wirklich, diesen Vorschlag konnte kein Gentleman annehmen. Kein Traum konnte das Tageslicht von Anns Abreise mit ihrem zuckersüßen Lateinamerikaner und sein Orangenschalengrinsen überleben. Smiley hatte einmal im Kino in der Wochenschau einen Bericht gesehen, wie Alvida irgendein Rennen in Monte Carlo gewonnen hatte. Das Widerwärtigste daran waren die Haare auf seinen Armen gewesen, erinnerte er sich. Mit seiner Schutzbrille, dem Motoröl im Gesicht und mit diesem lächerlichen Lorbeerkranz hatte er genau wie ein vom Baum heruntergefallener Orang-Utan ausgesehen. Er hatte ein weißes Tennishemd mit kurzen Ärmeln getragen, das auf rätselhafte Art während des Rennens rein geblieben war, und dadurch fielen einem diese schwarzen Affenarme mit noch größerer Widerwärtigkeit in die Augen.
Ja, das war Ann: Schreib mir! Kauf dein Leben zurück, sieh nach, ob es noch einmal gelebt werden kann, und schreib mir! Ich bin meines Liebhabers müde, mein Liebhaber ist meiner müde, also laß mich wieder deine Welt zertrümmern: meine eigene ist mir langweilig. Ich möchte zu dir zurück ... ich möchte, ich möchte . . .
Smiley stand auf. Noch immer den Brief in der Hand, blieb er vor der Porzellangruppe stehen. Einige Minuten lang betrachtete er die kleine Schäferin. Sie war so entzückend.
Der letzte Akt
Die Vorstellung des dreiaktigen Stückes >Edward II.< fand vor ausverkauftem Haus statt. Guillam und Mendel saßen nebeneinander am äußersten Ende des Bogens, der ein großes U vor der Bühne bildete. Von der linken Seite des Kreisendes konnte man die hinteren Parkettsitze sehen, die sonst unsichtbar waren. Ein leerer Platz trennte Guillam von einer Gruppe junger Studenten, die voll aufgeregter Erwartung miteinander flüsterten.
Sie blickten aufmerksam auf das Meer von dauernd in Bewegung befindlichen Köpfen und flatternden Programmen, durch die plötzlich Wellen auf und nieder gingen, wenn später Ankommende ihre Plätze einnahmen. Die Szene erinnerte Guillam an einen orientalischen Tanz, bei dem winzige Gesten von Hand und Fuß einen bewegungslosen Körper beseelen. Gelegentlich sah er ins hintere Parkett, aber von Elsa Fennan und ihrem Gast war noch nichts zu sehen.
Gerade als die von einem Band wiedergegebene Ouvertüre zu Ende ging, warf er wieder einen kurzen Blick auf die beiden leeren Sitze in der hintersten Reihe, und sein Herz machte einen plötzlichen Sprung, als er dort die schlanke Gestalt Elsas sah, die steif und bewegungslos in das Auditorium starrte, wie ein Kind, das sich zu benehmen lernt. Der Platz zu ihrer Rechten, neben dem Gang, war noch immer leer.
Draußen auf der Straße fuhren die Taxis eines nach dem anderen hastig am Eingang des Theaters vor, die Ankommenden gaben in der Eile den Chauffeuren viel zuviel Trinkgeld und suchten dann fünf Minuten nach ihren Karten. Smiley ließ sich von seinem Taxichauffeur hinter dem Theater, vor dem Hotel Clarendon, absetzen und befahl ihm dann zu warten. Er selbst ging sofort in den Speisesaal und zur Bar.
»Ich erwarte jeden Augenblick einen Anruf«, sagte er. »Mein Name ist Savage. Bitte rufen Sie mich sofort, wenn er kommt.«
Der Mann an der Bar nahm das Telefon und sprach mit der Hauszentrale.