Выбрать главу

Erst in dem Moment, in dem er mich mit beiden Armen fest an sich drückte, schrillten alle Alarmglocken in meinem Kopf los. Jörgen hasst Körperkontakt.

»Däumling, Darling, es tut mir soooooo leid, du kannst es dir gar nicht vorstellen. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.«

Mit diesen Worten ließ er mich genau so abrupt, wie er mich umarmt hatte, wieder los. Ich stand immer noch so da, wie vor und während der unerwarteten Umarmung: mit locker am Körper herunterhängenden Armen, leicht eingezogenem Kopf und einschließlich des kleinen Absatzes meiner ausgetretenen Schuhe ungefähr einen Meter zweiundachtzig groß. Jörgen misst, wenn er sich ganz lang macht, einen Meter fünfundsechzig. Er blickte mit Tränen in den Augen zu mir auf. Dann drehte er sich abrupt um, schnappte nach einem auf dem Schreibtisch liegenden Umschlag, drückte ihn mir in die Hand und schob mich zur Tür hinaus. »Bitte lass mich allein, ich muss weinen, ich will dir die Sache nicht noch schwerer machen, als sie es ohnehin schon ist. Alles Gute.«

Ich stand verwirrt vor seiner Bürotür, öffnete den Umschlag und las das Kündigungsschreiben.

Ich konnte es nicht fassen. Dies musste eine Verwechslung sein. Ich war normal zur Arbeit gekommen, hatte Kaffee gekocht, die Post vorbereitet und die Pflanzen gegossen. Alle Gewächse waren gesund, keines hatte gelbe Blätter oder war eingegangen. Wieso sollte Jörgen mir also kündigen?

Christine, Jörgens rechte Hand und linke Hirnhälfte, holte mich in ihr Büro und schloss die Tür.

»Es tut mir leid«, sagte sie. Es klang ehrlich.

Ich schwieg.

»Du hast noch Überstunden und Urlaub«, fuhr sie fort. »Wenn du willst, kannst du direkt verschwinden.«

Ich starrte sie an. Sofort verschwinden? Aber ich musste doch noch die Nachkalkulation der letzten Anzeigenkampagne machen, die Mediaplanung für den Lippenstift mit Vitamin-C-Zusatz… Ich konnte nicht einfach verschwinden. Wer würde dann meine Arbeit machen? Und was sollte ich tun, wenn ich morgens um zehn Uhr wieder auf der Straße stand? Wo sollte ich hin? Mitten am Tag in der Wohnung herumsitzen? Shoppen? Mich zu den Pennern unter die Brücke legen?

»Nein«, stammelte ich. »Warum sollte ich?«

Sie legte den Kopf ein wenig schief, wie sie es immer tat, wenn ihr etwas unangenehm war. »Jörgen will es so.«

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass man mir nicht die Wahl ließ, sofort zu gehen, sondern den Befehl dazu gab. Das machte mich völlig fassungslos.

»Er schmeißt mich direkt und ohne Umschweife hinaus?«, fragte ich.

»Du weißt, wie er unter schlechter Stimmung leidet«, sagte Christine, die von allen außer mir Chris genannt wurde. Englisch ausgesprochen, versteht sich.

»Aber warum…«, brachte ich mühsam hervor.

»Ach, Däumling«, sagte sie mit ihrem verständnisvollsten Gesichtsausdruck und milder Nachsicht in der Stimme. »Die Zeiten sind schlecht. Die Kunden bilden sich ein, dass sie auf die klassische Werbung verzichten können, weil sie ja schöne, bunte Internetseiten haben. Es gibt wenig Geld in der Branche und um diese Budgets kämpfen alle Agenturen, die großen etwas erfolgreicher als die kleinen. Wir stehen finanziell nicht so gut da und am Kreativpersonal können wir ja schlecht sparen, nicht wahr? Wer würde dann die Kampagnen machen?«

Damals nickte ich, weil ich ihre Argumentation für die einzig sinnvolle hielt. Kreativagenturen brauchen Kreative. Ich war nur eine langweilige Werbekauffrau. Die Kreativen, das waren die wirklichen Helden. Sie entwarfen Logos, Slogans, Fernsehspots, ganze Kampagnen. Anzeigenserien, Preisausschreiben, Plakate und Goodies. Sie kümmerten sich zwar nicht um Geld, um Termine nur ungern, und waren projektorganisatorisch auf dem Niveau von Neandertalern, aber sie waren eben kreativ.

Wir, das heißt meine Kollegin Susanne und ich, waren die Ordnungshüter. Wir kalkulierten, korrespondierten, organisierten, stimmten Termine ab und pochten auf deren Einhaltung.

Wir sammelten Entwürfe aus den Papierkörben und legten sie in ein Fach, aus dem sie später unter großem Hallo wieder hervorgezogen und dann doch verwendet wurden. Wir schrieben Rechnungen und ordneten Spesenquittungen, wir buchten Flüge, Leihwagen und Hotelzimmer. Wir führten die Projektdaten zusammen und stellten in der Nachkalkulation fest, ob Budgets eingehalten oder überschritten worden waren. Wir hielten einen Haufen übermütiger Hippies in Schach und organisierten den Kindergarten so, dass er – zumindest entfernt – einem gewinnorientierten Unternehmen glich. Kurz: Wir waren natürlich abkömmlich. Zumindest eine von uns, nämlich ich.

Ich packte meine persönlichen Sachen, verabschiedete mich von Susanne, die ehrlich traurig war, und von ein paar Kolleginnen und Kollegen, die peinlich berührt eine starke Arbeitsbelastung vortäuschten, um mich schnell wieder loszuwerden. Ich ging wie betäubt zur Straßenbahnhaltestelle und sehnte mich nach Gregs starken Armen.

An dieser Stelle überkommt mich wieder einmal, wie bereits mehrfach in den letzten Tagen, ein hysterisches Kichern. Starke Arme, ha! Ja, damals hatte ich mich nach starken Armen gesehnt, damit sie mich festhielten und mir den Eindruck gaben, geliebt und gebraucht zu werden. Heute bräuchte ich auch ein paar starke Arme – allerdings nicht, um mich zu halten, sondern um das steif gefrorene Problem aus meinem Kofferraum zu entfernen. Aber davon später.

Greg, der Typ mit den starken Armen, war mein persönlicher Kreativer. Angestellter bei AIQ wie ich, aber einer von der coolen Sorte. Assistant Art Director. Auf dem Weg nach oben, weshalb er leider relativ wenig Zeit für mich hatte. Zumal unsere Arbeitszeiten, wie bereits kurz erwähnt, unterschiedlich waren. Ich begann früh und machte gegen sieben Uhr Feierabend, Greg fuhr später ins Büro und kam dafür oft erst nachts heim. Manchmal sahen wir uns tagelang kaum. Aber ich fühlte mich ihm immer nah, immerhin wohnten wir zusammen. Ich machte seine Wäsche, bügelte, kaufte seine Zahncreme, sein Duschgel und den Rasierschaum und sorgte auch sonst dafür, dass er alles hatte, was er brauchte. Nur sein Aftershave kaufte er während seiner zahlreichen Reisen im Duty-Free-Shop selbst. Kochen musste ich selten, Greg aß meist auswärts, oft mit Kollegen oder Kunden. Zu seiner normalen beruflichen Belastung kamen die bereits erwähnten, häufigen Reisen. Am Tag der Kündigung war er vier Tage auf Dienstreise, Entschuldigung, Business Trip, gewesen und musste, laut Plan, irgendwann innerhalb der letzten beiden Stunden zurückgekommen sein. Zumindest hoffte ich das.

Manche Hoffnungen bleiben besser unerfüllt.

Greg war tatsächlich zu Hause, und er starrte mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, als ich die Tür hinter mir schloss. Es war ja auch ungewöhnlich, dass ich mitten am Tag nach Hause kam. Tränen schossen mir in die Augen, meine mühsam aufgebaute Selbstbeherrschung schmolz dahin wie Eiswürfel im Hochsommer und ich stürzte in seine Arme.

Greg ist der schönste Mann auf der ganzen Welt und – hier kommt ein nicht unwichtiger Faktor für eine Frau von einem Meter achtzig ins Spiel – er ist groß. Einsneunundachtzig mindestens. Das reicht, ich trage Schuhe mit flachen Absätzen. Außerdem ist er zur Hälfte Amerikaner und zu einem Viertel Spanier. Er sieht ein bisschen aus wie eine größere Ausgabe von Antonio Banderas, finde ich. Greg findet das auch. Er ist sehr eitel, aber das darf er bei all seinen Vorzügen natürlich auch sein.

Er schloss seine starken Arme um mich, vielleicht mit einer kleinen Verzögerung, aber das bemerkte ich damals in meiner Aufregung nicht. Es fiel mir erst später wieder ein, als ich mir die tragischen Momente des Tages wieder und wieder vor Augen führte und mich in masochistischen Anwandlungen fragte, an welcher Stelle ich die Notbremse hätte ziehen können. An keiner Stelle, weiß ich heute.