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Auch damals waren die Leser jedoch fasziniert von der psy-chologischen Analyse des Verbrechens, einem zentralen Aspekt des Romans. Man bewunderte die Subtilität, mit der der Autor – »der ja selbst Gelegenheit gehabt hatte, Verbrecher aus der Nähe zu betrachten« – den Weg zur Tat Schritt für Schritt aus einem zufälligen kriminellen Impuls heraus beobachtete und den inne-ren Zustand des Täters beschrieb, wie das vor ihm noch keiner getan hatte. Gegen das Etikett eines Psychologen hat sich Dosto-jewskij allerdings gewehrt – er sei ein Realist, das hat er immer

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wieder betont und damit seinen Anspruch unterstrichen, ein Wort mitzureden über die geistige Situation seiner Zeit. Es war die sogenannte russische Aufklärung der sechziger Jahre, der - paradox formuliert – blinde Glaube an den euklidischen Ver-stand, der platte Materialismus, mit dem jede höhere Seinssphäre geleugnet wurde, wogegen Dostojewskij zu Felde zog. Dem stellte er seine Konzeption eines organischen ganzheitlichen Seins entgegen, das sich im Leiden seiner bewußt werden und wahrhaft menschliche Erfüllung finden könne. So erzählt er die Erlebnisse des Studenten Raskolnikow (abgeleitet von raskol = Schisma, Abspaltung), sein Verbrechen und seine Strafe – was auch im russischen Titel ganz unprätentiös mit den Begriffen aus der Gerichtssprache zum Ausdruck gebracht wird: Verbrechen und Strafe. Zugleich ist es aber auch die Erzählung von der geisti-gen Schuld Raskolnikows, von seinem Untergang und von seiner Sühne durch die Bereitschaft, sein Verbrechen zu gestehen, die Strafe anzunehmen und zu leiden – die Geschichte seiner sittli-chen Auferstehung.

Schuld und Sühne steht nicht nur chronologisch in der Mitte von Dostojewskijs schriftstellerischer Tätigkeit: vieles ist in diesem ersten seiner fünf großen Romane thematisch bereits angelegt, was in den späteren Werken dann voll entfaltet wurde. Gleichzeitig bildet er aber auch den Höhepunkt und die Zusam-menfassung seines bisherigen Schaffens.

Allgemein gilt Schuld und Sühne als das bestkomponierte Werk Dostojewskijs. Das scheint in einem gewissen Wider-spruch zu den Umständen zu stehen, unter denen es entstanden ist, allerdings nur, wenn man die Entstehung des Textes mit der Konzeption des Romans verwechselt. In Wirklichkeit ist der Niederschrift des Romans eine langjährige intensive Gedanken-arbeit vorausgegangen, die nicht losgelöst von den Lebensum-ständen des Autors betrachtet werden darf.

Seine Kindheit verbrachte Fjodor Michailowitsch Dostojew-skij in Moskau, wo er am 30. Oktober 1821 zur Welt kam. Die Familie lebte in einem Armenviertel an der Peripherie der Stadt in einer Klinik, an der der Vater als Arzt tätig war. Die Kinder wuchsen offenbar wohlbehütet auf, wurden sorgfältig erzogen und in »die hohe Bildungs- und Gefühlskultur« jener Zeit

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(L. Müller) eingeführt. Mit sechzehn Jahren kam Fjodor nach Petersburg auf die Ingenieurschule der Militärakademie, die er jedoch ohne große Begeisterung absolvierte – was ihn beschäf-tigte, war die Literatur. So quittierte er 1844 – er war inzwischen zum technischen Zeichner mit dem Rang eines Oberleutnants avanciert – seinen Dienst, um sich ganz seinen literarischen Interessen widmen zu können.

1846 erschien Dostojewskijs erster Roman, Arme Leute, der ihm einen überwältigenden Erfolg bescherte. Mit dem literari-schen Ruhm entstanden auch neue Beziehungen zu den Literaten Petersburgs: Stellvertretend seien hier der Dichter N. A. Ne-krassow und v. a. der revolutionär-demokratische Literaturkri-tiker V. G. Belinskij genannt, der den Erstling des jungen Autors mit Begeisterung begrüßte. Unter dem Einfluß Belinskijs, aber auch durch seinen Freundeskreis geriet der junge Autor in für ihn äußerst folgenreiche Berührung mit den »neuen Ideen«, die damals unter Intellektuellen diskutiert wurden. Man war allge-mein unzufrieden mit den gesellschaftlich-politischen Verhält-nissen im Lande und verfolgte mit besonderem Interesse die Entwicklung in Europa, setzte sich begeistert mit den philoso-phischen Entwürfen für eine neue Gesellschaftsordnung ausein-ander, d. h. mit den Schriften der Frühsozialisten, insbesondere Saint-Simon und Fourier, erhitzte sich in Diskussionen über die Religionskritik eines Ludwig Feuerbach und David Friedrich Strauß. Wichtig für den jungen Dostojewskij waren in diesem Zusammenhang die Brüder Beketow, an die er sich enger an-schloß, ja mit denen er im Winter 1846/47 sogar in einer Art Kommune nach dem Vorbild der Fourierschen »Assoziation« lebte. Rückblickend erklärte er seine Begeisterung für die Ideen des »utopischen Sozialismus« mit ihrer Nähe zur christlichen Ethik (»Es ist wirklich wahr, daß der zu keimen beginnende So-zialismus damals sogar von manchen seiner Führer mit dem Christentum verglichen und nur für eine der Zeit und Zivilisation entsprechende Verbesserung und Vervollkommnung dessel-ben gehalten wurde« – Aus dem Tagebuch eines Schriftstellers, 1873). Seit 1847 besuchte Dostojewskij auch die »Freitagsgesprä-che« bei Petraschewskij, trat sogar in engere Beziehungen zu deren radikalem Flügel. Bei einem Treffen im April 1849 verlas er

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mit Enthusiasmus Belinskijs offenen Brief an Gogol, in dem dieser gegen Leibeigenschaft und Despotismus zu Felde zieht und Gogol Verrat an der russischen Freiheitsbewegung vorwirft.

Inzwischen hatte jedoch die Staatsgewalt nicht geruht. Es war die Zeit der sog. nikolaitischen Reaktion, der Regierung Kaiser Nikolaus' L, der nicht eben schmeichelhaft als »Gendarm Euro-pas« in die Geschichte eingegangen ist. Rußland war ein Polizei-staat, das Leben der Untertanen verlief in eng geregelten Bahnen und unter dem wachsamen Auge der III. Abteilung, der Ge-heimpolizei, die in dieser Periode revolutionären Aufbegehrens in Europa in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt war. Natürlich mußten da Aktivitäten der Intellektuellen, Diskussionsrunden wie die um Petraschweskij, allerhöchsten Verdacht wecken. Und als Petraschewskij anläßlich eines Banketts zu Ehren Fouriers in seiner Tischrede »die bestehende Gesellschaftsordnung zum Tode« verurteilte und auch gleich zur Vollstreckung des Urteils aufrief, war das Maß voll. In der Nacht zum 23. April wurden sämtliche Mitglieder des Kreises verhaftet und bis zum Abschluß des Prozesses in die Peter-Pauls-Festung gesperrt.

Dostojewskij saß dort neun Monate in Einzelhaft. In strenger Selbstzucht und kontrollierter geistiger Tätigkeit kämpfte er gegen die drohende Verzweiflung an; seinem Bruder schrieb er, daß er die Zeit nicht unnütz verstreichen lasse – »ich habe drei Erzählungen und zwei Romane erdacht; einen von ihnen schreibe ich jetzt...« (18.Juli). Tatsächlich ist damals im Ge-fängnis die Erzählung Ein kleiner Held entstanden. Doch das ständige Alleinsein, unterbrochen nur von Spaziergängen im Garten, »wo es an die siebzehn Bäume gibt«, die langen Stunden im Dunklen, wenn er nicht schlafen konnte, waren schwer zu ertragen. Am 27. August schrieb er: »Nachts habe ich lange häßliche Träume, und in der letzten Zeit habe ich oft das Gefühl, als schwanke der Fußboden unter mir und als säße ich in meinem Zimmer wie in einer Schiffskajüte« (in Schuld und Sühne nennt Rasumichin das Zimmer Raskolnikows »die reinste Schiffska-jüte«). Seine innere Verfassung beschreibt er in einem Brief an den Bruder: »Seit fast fünf Monaten lebe ich ausschließlich von meinen eigenen Mitteln, das heißt von meinem Kopf allein, und sonst von nichts. Diese Maschine ist vorläufig noch im Gange. Es