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ist übrigens unsagbar schwer, nur zu denken, ewig zu denken, ohne alle äußeren Eindrücke, die die Seele erfrischen und nähren! Ich lebe gleichsam unter der Glocke einer Luftpumpe, aus der man die Luft herauspumpt. Mein ganzes Wesen hat sich im Kopf konzentriert und ist aus dem Kopf in die Gedanken geflüchtet, obwohl die Gedankenarbeit von Tag zu Tag größer wird.« (14. September).

Dann kam die Katastrophe: Am 19. Dezember 1849 wurde das Urteil gefällt – 21 Angeklagte seien des Todes schuldig; ange-sichts ihrer Jugend, ihrer Reue und der Tatsache, daß aus ihrer Tätigkeit keine schädlichen Folgen entstanden seien, sei jedoch die Todesstrafe in Freiheitsstrafen umzuwandeln... Dostojew-skij verlor alle Rechte seines Standes und sollte für acht Jahre Zwangsarbeit in die Strafkolonie verschickt werden. Diese Strafe milderte der Kaiser zu vier Jahren Zwangsarbeit mit anschließen-dem Armeedienst als Gemeiner, verfügte aber, daß die Ange-klagten vorher zum Schein zur Hinrichtung geführt werden sollten. Am 22. Dezember wurde dieses sadistische Spiel mit den Angeklagten getrieben: Dostojewskij beschreibt es unmittelbar danach in seinem Abschiedsbrief an den Bruder: »Heute, am 22. Dezember, wurden wir alle zum Semjonower Platz gebracht. Dort verlas man uns das Todesurteil, ließ uns das Kreuz küssen, zerbrach über unseren Köpfen den Degen und machte uns die Todestoilette (weiße Hemden). Dann stellte man drei von uns vor dem Pfahl auf, um das Todesurteil zu vollstrecken. Ich war der sechste in der Reihe; wir wurden in Gruppen von je drei Mann aufgerufen, und so war ich in der zweiten Gruppe und hatte nicht mehr als eine Minute noch zu leben... Ich hatte noch Zeit, Pleschtschejew und Durow, die neben mir standen, zu umarmen und von ihnen Abschied zu nehmen. Schließlich wurde Retraite getrommelt, die an den Pfahl Gebundenen wur-den zurückgeführt, und man las uns vor, daß Seine Kaiserliche Majestät uns das Leben schenke.« Mehrfach wird in Schuld und Sühne zur Charakterisierung der inneren Verfassung Raskolni-kows auf diese Erfahrungen angespielt, auf die erhöhte Wahr-nehmungsfähigkeit eines zum Tode Verurteilten und seinen unbändigen Lebenswillen.

In Ketten geschmiedet wurde Dostojewskij am Weihnachtstag

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1849 im offenen Schlitten aus Petersburg abtransportiert nach Sibirien, wo er vier Jahre unter Verbrechern in der Festung Omsk zubringen mußte - eine Zeit, die er später im Epilog von Schuld und Sühne als Erlebnis Raskolnikows künstlerisch ver-werten sollte. Es waren vier grauenvolle Jahre, in denen er unter den Ketten, der Rechtlosigkeit, den entsetzlichen hygienischen Verhältnissen, der schweren Arbeit, der schlechten Ernährung und nicht zuletzt den Mitgefangenen furchtbar litt. Hier hatte er denn auch die ersten epileptischen Anfälle. Dem Bruder konnte er erst unmittelbar nach der Entlassung schreiben. Er schildert ihm seine bitteren Erfahrungen seit dem Abtransport aus Petersburg, die Etappe in Tobolsk, wo die Gefangenen von den Frauen der Dekabristen, den »Sträflingen aus der früheren Zeit«, wie Angehörige versorgt wurden (dort schenkte ihm auch N. D. Fonwisina ein Neues Testament, das Exemplar, das er in Schuld und Sühne an so zentraler Stelle beschreibt), dann das Zuchthaus Omsk, die ständige Bedrohung durch das Zusammenleben mit den anderen Strafgefangenen. Hier erfuhr er am eigenen Leib die tiefe Kluft, die die Intellektuellen vom einfachen Volk trennte, den Haß, mit dem man ihnen begegnete: »Es sind rohe, gereizte und erbitterte Menschen. Der Haß gegen den Adel ist grenzen-los; sie empfingen uns Adelige feindselig und mit Schadenfreude. Sie hätten uns am liebsten aufgefressen, wenn sie nur gekonnt hätten. Urteile übrigens selbst, in welcher Gefahr wir schweb-ten, da wir mit diesen Leuten einige Jahre lang zusammen leben, essen und schlafen mußten und dabei nicht einmal die Möglich-keit hatten, uns wegen der ständig zugefügten Beleidigungen zu beschweren. >Ihr Adeligen habt eiserne Schnäbel, ihr habt uns zerhackt. Früher, als ihr Herren wart, habt ihr das Volk gepei-nigt, jetzt, wo es euch schlecht geht, wollt ihr unsere Brüder sein<.« (22. Februar 1854) - Besonders schlimm aber war es für Dostojewskij, daß er nicht schreiben und nie allein sein konnte -nach der Zeit der totalen Isolation in der Untersuchungshaft nun dieser »gewaltsame Kommunismus«, wie er es in einem Brief charakterisierte. Und doch sieht er die Zeit nicht als verloren an: »Wenn ich nicht Rußland kennengelernt habe, so habe ich doch das russische Volk kennengelernt, so gut, wie vielleicht nicht viele es kennen.« In seinen sibirischen Heften hat er die Schick-

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sale, Sprichwörter und Redewendungen der Landstreicher, Räu-ber und Mörder, mit denen er vier Jahre in Zwangsgemeinschaft gelebt hat, aufgezeichnet, und manches davon findet sich in seinen späteren Werken wieder.

Anfang 1854 wurde Dostojewskij aus dem Zuchthaus Omsk entlassen und mußte dann als Gemeiner beim Heer in Semipala-tinsk dienen. Langsam mußte er sich in die neuen Lebensum-stände, die neue Freiheit, hineinfinden, doch endlich konnte er wieder schreiben. In einem Brief aus dem Jahre 1856 vermutet man einen ersten konkreten Hinweis auf Schuld und Sühne: »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich darunter gelitten habe, daß ich im Zuchthaus nicht schreiben durfte. Die innere Arbeit kochte nur so. Einiges geriet mir sehr gut, ich fühlte es. Ich habe im Kopf eine große Novelle, die ich für mein endgültiges Werk halte, geschaffen. Ich hatte solche Angst, daß die erste Liebe zu meinem Werk erkalten würde, wenn die Jahre vergehen und die Stunde der Verwirklichung schlägt; jene Liebe, ohne die man nicht schreiben kann. Ich hatte mich aber geirrt: die von mir geschaffene Gestalt, die dem ganzen Werk zugrunde liegt, erfor-derte einige Jahre für ihre Entwicklung, und ich bin überzeugt, daß ich alles verdorben hätte, wenn ich damals unvorbereitet und im ersten Eifer die Arbeit unternommen hätte.« (18. Januar 1856 an A. N. Majkow) – Später erwähnte er »jenes Hauptwerk« noch einmal in einem Brief an den Bruder, dem er schreibt, daß er die Arbeit daran noch aufschieben wolle bis zu seiner Rückkehr, um den Roman dann durch neue, aktuelle Beobachtungen ergänzen und bereichern zu können (Mai 1858).

Nachdem Dostojewskij durch die Fürsprache seines Freun-des, des jungen Bezirksstaatsanwalts Baron A. E. Wrangel, 1857 wieder in die früheren Rechte versetzt wurde, konnte er noch im selben Jahr, wenn auch anonym, seine Erzählung Ein kleiner Held, die er in der Peter-Pauls-Festung geschrieben hatte, ver-öffentlichen. 1857 heiratete er Maria Dmitrijewna Issajewa, die Witwe eines kleinen Beamten, mit der er bis zu ihrem Schwind-suchttod 1864 in einer nicht sehr glücklichen Ehe lebte. Vor allem aber suchte er seine ungeheuerlichen Erlebnisse in dem Toten Hause, der sibirischen Strafkolonie, literarisch zu bewälti-gen. Sicherlich aus Zensurgründen legte er sie einem unpoliti-

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sehen Erzähler, einem Mörder aus Eifersucht, in den Mund. So entstand der Leidensbericht über eine wahre Hölle, die Gegen-welt der Strafkolonie mit ihren eigenen Lebensregeln und Menschentypen. »Diesseits lag eine eigene, besondere Welt, die nichts gemein hatte mit irgend etwas anderm; hier galten eigene, besondere Gesetze, hier trug man eine besondere Tracht, hatte eigene Sitten und Gebräuche, es war ein lebendiges Totenhaus, ein Leben wie nirgendwo sonst auf der Welt; auch die Menschen darin waren besondere Menschen.« Vor allem beschäftigte ihn dabei die Psychologie des Verbrechers, des Verbrechens, die Normalität des Anormalen, der unbändige Freiheitsdrang des Menschen, die Frage nach Reue oder Schuldbewußtsein und schließlich nach dem Sinn von Strafen. Die Existenz im Toten Hause, das Abgeschnittensein vom »lebendigen Leben« hatte er als das Schrecklichste empfunden, weshalb ihm die wiederge-wonnene Freiheit, wie er in seinem Buch schreibt, wie eine »Auferstehung von den Toten« erschien.