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Nach beinahe zehn Jahren konnte Dostojewskij ins europäi-sche Rußland und bald auch nach Petersburg zurückkehren. Dort empfing ihn eine völlig veränderte Atmosphäre: nach dem verlorenen Krimkrieg und dem Tod des Zaren 1855 hoffte man auf den neuen Zaren, Alexander II., erwartete von ihm Refor-men, eine Liberalisierung des politischen Lebens. Dostojewskij gründete schon nach einem Jahr gemeinsam mit seinem Bruder die Zeitschrift Wremja (Die Zeit) – es galt ja nun, den Lebensun-terhalt zu verdienen. Zugleich aber schuf er sich damit auch das Forum, wo er sich aktiv am kulturellen Leben beteiligen konnte. Wollte er doch mit seinen in schweren Jahren gewonnenen Einsichten zur geistigen Situation Rußlands und seinen Vorstel-lungen von Rußlands künftigem Weg in die öffentliche Diskus-sion eingreifen. Denn in der durch die neue Regierung ausgelö-sten Aufbruchstimmung stand die Zukunft Rußlands im Zen-trum der Auseinandersetzungen, war der alte Streit zwischen Slawophilen und Westlern aufs neue entbrannt. Dostojewskij selbst teilte weder die Ansichten der Westler, die den Anschluß Rußlands an Westeuropa und seine Kultur propagierten, noch die Ideale der Slawophilen, die das wahre Rußland in der vorpe-trinischen Zeit sahen und an diese alten Zeiten anknüpfen woll-

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ten für einen eigenen Weg Rußlands – bei beiden erkannte er Richtiges und Falsches. Im redaktionellen Vorspann zu seiner Zeitschrift erläuterte er sein weltanschauliches Programm, das Potschwennitschestwo (etwa »Bodenständigkeit«, »Bodenhaf-tigkeit«), von dem in Zukunft auch sein künstlerisches Schaffen geprägt sein sollte: »Es ist unsere Aufgabe, eine neue, eigene, unserem Wesen entsprechende Form zu schaffen, die aus unse-rem Boden (potschwa), dem Geist und den Prinzipien unseres Volkes kommt.« Wie die Westler sieht Dostojewskij die Not-wendigkeit der petrinischen Reformen für Rußland ein, aber sie seien teuer erkauft worden: um den Preis einer Spaltung des russischen Volks in eine kleine Intellektuellenschicht und den Großteil der Bevölkerung. Die Intelligenzija habe sich der Basis entfremdet, ihre russische Identität verloren und durch die un-kritische Übernahme fremder kultureller Paradigmen ersetzt. Diese Spaltung müsse nun überwunden werden: »Wir ahnen voraus..., daß der Charakter unserer zukünftigen Tätigkeit in höchstem Grade allgemeinmenschlich sein muß; daß die russi-sche Idee vielleicht die Synthese aller der Ideen sein wird, die Europa in seinen einzelnen Nationalitäten mit solchem Nach-druck, mit solcher Mannhaftigkeit entwickelt, daß vielleicht alles Feindliche in diesen Ideen seine Versöhnung und seine weitere Entwicklung im russischen Volkstum finden wird.« Mit dem Begriff der Bodenständigkeit will Dostojewskij nicht nur die Rückbesinnung auf die eigenen, russischen formenden Kräfte ausdrücken, sondern auch vor der Gefahr einer »Kopflastigkeit« warnen: der Mensch könne »nicht allein von den Kräften des Verstandes leben«, er brauche auch »eine Beziehung zu den tieferen, naturhaften Schichten des Seins« (L. Müller).

Die Zeitschrift war außerordentlich erfolgreich sowohl ihres ideologischen Programms als auch ihres literarischen Niveaus wegen, nicht zuletzt durch Dostojewskijs eigene Beiträge, v. a. die Aufzeichnungen aus einem toten Hause. So schien auch seine Existenz gesichert, ja er konnte sogar eine erste Auslandsreise finanzieren (1862), die ihren feuilletonistischen Niederschlag in den Winterlichen Bemerkungen über sommerliche Eindrücke (1863) fand. Doch dann entzog ihm das Verbot der Zeitschrift 1863 wegen eines von der Zensur als polenfreundlich mißver-

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standenen Artikels von N. Strachow mit einem Schlag die Exi-stenzgrundlage. Zwar gelang es ihm Anfang 1864 noch einmal, die Genehmigung für eine neue Zeitschrift (Epocha) zu erhalten, die das Programm der Wremja fortsetzte, aber in einer Phase des »allgemeinen Zeitschriftensterbens« konnte er sie – trotz hervor-ragender Mitarbeiter – nicht länger als ein Jahr halten. Es war ein verhängnisvolles Jahr für Dostojewskij: Im Frühjahr starb seine Frau, nur wenige Monate später völlig überraschend auch sein Bruder und Mitstreiter – und mit Jahresende mußte er die Zeitschrift aufgeben und stand vor dem Nichts.

Die Verschuldung durch die Zeitschrift, die Schulden seines Bruders, die Sorge für die Existenz der Familie des Bruders und des Stiefsohns – all das lastete jetzt auf Dostojewskij und über-stieg seine Kräfte. Durch einen selbstmörderischen Vertrag mit einem Buchhändler über eine erste Werkausgabe verschaffte er sich etwas Geld und floh ins Ausland, nach Wiesbaden, um sich durchs Roulette und durch seine schriftstellerische Arbeit zu retten...

In dieser Situation endlich nahm Dostojewskij seinen Roman Schuld und Sühne in Angriff. »Für die Spannung kann ich mich verbürgen, über die künstlerische Qualität des Romans will ich mir kein Urteil erlauben«, schrieb er in den Erläuterungen für Katkow. Es wurde fast ein Kriminalroman, spannend und mit großer Leidenschaftlichkeit geschrieben von einem Autor, der nicht von außen, als objektiver Beobachter eine Geschichte erzählt, sondern selbst immer mitten im Geschehen zu sein scheint, emotional beteiligt, manchmal sein Autor-Ich mit dem seiner Protagonisten verschmelzend. So fühlt sich auch der Leser immer wieder miteinbezogen und kann sich der Dramatik der Handlung nicht entziehen. Für diese »Gegenwärtigkeit« des Romans gab es aber in der Entstehungszeit auch noch weitere Ursachen, die ihn für den heutigen Leser fast schon zu einer historischen Quelle machen.

Mit gutem Recht kann man nämlich Schuld und Sühne einen Petersburger Roman nennen, spielt er doch in einem ziemlich genau zu umgrenzenden Teil der Stadt zu einer ebenso klar bestimmbaren Zeit im Juli 1865, also in dem seiner Entstehungs-zeit unmittelbar vorausgehenden Zeitraum. Dostojewskij selbst

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wies in seinem Brief an Katkow darauf hin, daß »die Handlung in der Gegenwart« spiele, »im laufenden Jahr«. Sie spielt aber nicht im »Paradies« Peters des Großen, im Petersburg der Schlösser und Paläste, in der großzügig gebauten, eleganten Hauptstadt des russischen Reichs, diesem »Venedig des Nordens« – nein, sie spielt in »Europas am schnellsten expandierender Industrie-stadt«, in den Hinterhöfen des Lebens, den Vierteln, wo die Unterprivilegierten lebten, die Kleinbürger und Händler, die Arbeiter und Handwerker und vor allem die vielen Menschen, die von überall aus dem Reich in die Stadt strömten in der Hoffnung auf raschen Verdienst und die hier strandeten. Das wachsende Elend der Großstadt, der moralische Verfall ihrer Bewohner, Schmutz und Gestank, Alkohol und Prostitution, die steigende Kriminalität – das ist die Szenerie für die Ge-schichte des Studenten Raskolnikow und seine Idee.

Den Stadtteil Petersburgs um den Heumarkt, wo Raskolni-kow sein Zimmer hatte, kannte Dostojewskij sehr gut, hat er doch selbst dort eine Zeitlang in den vierziger Jahren und von 1864-1867 gewohnt. Die Straßennamen, die Brücken und Plätze, die im Roman nur mit Anfangsbuchstaben bezeichnet werden, lassen sich leicht erschließen. Der Vergleich mit alten Plänen und Adreßbüchern, wie er für die Kommentare der kritischen Ausgabe immer wieder angestellt wurde, zeigt, daß Dostojewskij diese Gegend mit nahezu photographischer Ge-nauigkeit beschrieben hat. Und das ist ihm auch wichtig, jeden Weg seiner Protagonisten benennt er mit allen Straßennamen, so daß der Ortskundige ihn problemlos nachvollziehen kann – damit wird das Geschehen für den Leser konkret, es rückt aus fiktionaler Beliebigkeit in die reale, alltäglich erlebte Umwelt. Dieser besondere Realitätsbezug wird auf den verschiedensten Ebenen immer wieder hergestellt.