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So war etwa 1865 ein heißer Sommer (was die Zeitungen von damals bestätigen), zur drückenden Hitze kam vor allem in den Armenvierteln der Gestank aus den zahlreichen Kanälen und Wasserläufen, der Schmutz der Straßen, der Staub durch die Trockenheit, aber auch Kalk und Mörtel von den Baustellen. Im Roman werden diese Phänomene immer wieder benannt: »An-fang Juli, an einem ungewöhnlich heißen Tag...« (S. 7); oder:

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»Auf der Straße war es drückend heiß. Dazu war es schwül; es herrschte Gedränge; überall lagen Kalk und Ziegelsteine umher, standen Baugerüste, es war staubig, und jener besondere som-merliche Gestank erfüllte die Luft, den jeder Petersburger so gut kennt...« (S. 8); und später: »Auf der Straße herrschte wieder unerträgliche Hitze; wäre nur in all diesen Tagen ein einziger Tropfen Regen gefallen! Wieder gab es Staub, Ziegel und Kalk; wieder drang der Gestank aus Kaufläden und Gasthäusern ins Freie...« (S. 123). Im Handlungszusammenhang soll damit na-türlich die beklemmende Atmosphäre markiert werden – man kann in solchen Passagen aber auch als historische Information Indizien für die Expansion Petersburgs mit all den dazugehöri-gen sozialen und hygienischen Problemen einer überstürzten Modernisierung, das Chaos der permanenten Baustelle herausle-sen. Zu diesem Bild gehören auch die Hinweise auf die vielen Handwerker, für die es in einer solchen Stadt einen großen Bedarf gab: »... und die vor allem aus Handwerkern bestehende Bevölkerung, die sich in diesen ärmlichen Petersburger Straßen und Gassen zusammendrängte« (S. 9); »Vor den Garküchen in den unteren Stockwerken, auf den schmutzigen, stinkenden Höfen des Platzes, besonders aber vor den Kneipen hatten sich viele Handwerker und zerlumpte Leute der verschiedensten Art eingefunden« (S. 81). Daneben werden aber auch häufig Bauern (krestjanje) erwähnt, die sich in der Großstadt aufhalten – auch der Anstreicher Nikolaj Dementjew, der sich fälschlicherweise der Mordtat bezichtigt, seine Freunde und Bekannten, die ihn angezeigt haben, sind solche Bauern, sogar ihre Herkunft aus Sarajsk wird angegeben. Daran läßt sich das Problem der Land-flucht als Kehrseite der starken Expansion der Stadt ablesen. Dostojewskij beschreibt die Physiologie der Großstadt Petersburg präzise und detailreich, ohne daß es je zum Selbstzweck würde oder in den Vordergrund rückte: Das bunte Treiben in den Straßen, die Bettler, das fahrende Volk, die vielen Betrunke-nen, die entsprechend zahlreichen Kneipen, auch die anderen »Etablissements«, die Obdachlosenasyle, vieles, was wir heut-zutage aus der Dritten Welt kennen, etwa auch solche »regel-rechten Gewerbe«, wie das Sich-vor-Droschken-Werfen, um Schmerzensgeld kassieren zu können (S. 148). Die häßlichen

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Straßenzüge mit ihren vier- bis fünfgeschossigen Häusern und den vielen Mietsparteien, (das Haus der Pfandleiherin wird als »reinste Arche Noah«, S. 137, bezeichnet) und den schmutzigen Hinterhöfen – das ist die »Landschaft« des Romans.

Mit Anspielungen auf die verschiedenartigsten Vorkomm-nisse, auf Kriminalfälle und Attraktionen, wie sie in der Tages-presse berichtet werden und heutzutage ohne Kommentar oft gar nicht mehr verständlich sind, wird ein zusätzliches Netz von Bezügen zum Zeitgeschehen angelegt. Doch neben diesen fakti-schen Bezügen, neben der konkreten Kulisse der Stadt Petersburg sind es die damals virulenten Themen, die den Roman auch zu einem Zeitroman machen. So spielt Raskolnikow mit seiner »Theorie«, dem Recht der »starken Persönlichkeit«, die für das gewöhnliche Volk verbindlichen Normen der Moral zu übertre-ten – dem dominanten Motiv in dem Bündel widersprüchlicher Motive für seine Bluttat – auf das im März 1865 erschienene Buch Napoleons III., Histoire de Jules César, an; auch in der russi-schen Presse war über die entsprechenden vom Verfasser im Vorwort entwickelten Ansichten eine heftige Kontroverse ent-brannt.

Auf die Auseinandersetzung mit dem damaligen Bestseller, Tschernyschewskijs Was tun? Erzählungen von neuen Men-schen, wurde bereits hingewiesen. Diese Auseinandersetzung hatte Dostojewski) nicht erst mit Schuld und Sühne begonnen – 1864 bereits hatte er in seinem wohl merkwürdigsten Werk, den Aufzeichnungen aus einem Kellerloch, das Nietzsche »einen wahren Geniestreich der Psychologie« genannt hat, in der Form des Räsonnements eines verbitterten kleinen Beamten, mit dem sozialistischen Glauben an den Fortschritt der Menschheit, der Idee der »neuen Menschen«, abgerechnet. Denn dieser Fort-schritt mit seinem Glauben an die alles regelnden Naturgesetze enthebt, so argumentiert Dostojewskij mit seinem Protagoni-sten, das Individuum jeder Verantwortung für sein Tun und entmündigt es zu einer Art »Klaviertaste oder Orgelpfeife«. Tschernyschewskij gebraucht in seinem Roman das Bild des Kristallpalastes in den traumhaften Zukunftsvisionen seiner Hel-din als Emblem dieser vernunftbestimmten Gesellschaftsord-nung. Auch bei Dostojewskijs Untergrundmenschen wird dieses

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Bild benutzt, in dem das berühmte Bauwerk der Londoner Weltausstellung mit dem utopischen Ideal des Fourierschen Phalansteriums verschmolzen ist (das Gemeinschaftshaus der Phalange, eines genossenschaftlichen Zusammenschlusses von Menschen), jedoch als Schreckensvision einer unzerstörbaren, totalen Herrschaft der Vernunft. Dieser Schreckensvision stellt Dostojewskij das »lebendige Leben« gegenüber, wo »der Mensch sich vom wirklichen Leiden, das heißt von der Zerstö-rung und dem Chaos, nicht lossagen würde. Das Leiden ist ja die einzige Ursache des Bewußtseins«. Auch in Schuld und Sühne wird gegen die Entmündigung des Individuums im »neuen Den-ken«, gegen die Milieutheorie polemisiert. Und auch hier taucht das Bild des Kristallpalastes auf – als Café chantant innerhalb des Komplexes des Armenasyls! Und das »lebendige Leben« ist es, von dem sich Raskolnikow mit seiner Theorie, die er bis zur grausigen Tat gesteigert hat, abgeschnitten hat. Genauso empfin-det er es auch am Ende seines merkwürdigen ersten Gangs durch die Stadt nach der Tat: »Er hatte das Gefühl, als hätte er sich in diesem Augenblick mit einer Schere von allem und allen abge-schnitten« (S. 149). Später bemüht er sich noch einmal, diese Entfremdung zu überwinden, wenn er sich auf dem Heumarkt unter die Leute mischt und mit ihnen ins Gespräch zu kommen sucht – aber er bekommt immer wieder eine Abfuhr, »die Männer kümmerten sich nicht um ihn, sondern redeten und stritten alle untereinander...« (S. 201).

Raskolnikow, dessen Weg in den geistigen Tod die eine Hand-lungslinie zeigt, wird vor dem physischen Tod bewahrt, der als Möglichkeit des Auswegs auch in dem Selbstmordversuch der Betrunkenen angedeutet wird, die sich in die Fontanka stürzt, sowie dem vollendeten Selbstmord Swidrigailows. In einer zwei-ten gegenläufigen Handlungslinie wird seine Auferstehung zu neuem, wahrem Leben dargestellt. Wie seine Entfremdung vom lebendigen Leben, seine Verirrung, seinen Untergang bewirkt, so leitet seine Liebe zu der Prostituierten Sonja Marmeladowa die Umkehr, das Erwachen zu neuem Leben ein. In einem er-sten Ansatz dazu hatte er im Gespräch mit dem Untersuchungs-richter Porfirij Petrowitsch gesagt: »Leiden und Schmerz sind für eine umfassende Erkenntnis und für ein tiefes Herz seit

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jeher unerläßlich« (S. 337). Auf dem Weg zum Geständnis seiner Tat, nachdem er sich von Sonja das Kreuz hat umhängen lassen, kniete er auf dem Heumarkt nieder, »neigte sich tief und küßte inbrünstig und voll Glück die schmutzige Erde. Er stand auf und verneigte sich ein zweitesmal« (S. 673). Dieser hochsymbolische Akt – der Kuß des Erdbodens – deutet seine Bereitschaft zur Sühne, zur Überwindung der trennenden Kluft an.

Die beiden gegenläufigen Handlungslinien werden durch ein Netz von Metaphern und Motiven, von prophetischen Träu-men und literarischen Anspielungen gestützt – hier sei nur auf einen zentralen Metaphernkomplex hingewiesen, der beide Handlungslinien miteinander verbindet – der des Raumes: Während Raskolnikows Zimmer zunächst eher »als eine Art Schrank denn als Wohnraum« charakterisien wird, verwandelt es sich zunehmend in seiner drangvollen Enge in einen Sarg für ihn; Sonjas Zimmer dagegen wirkt auf Raskolnikow wie eine Scheune. Die ständig wachsende Beklemmung durch sein Ab-geschnittensein nimmt Raskolnikow mehr und mehr den Atem, bis schließlich sogar der Untersuchungsrichter ihm zu-ruft: »... geben Sie sich dem Leben einfach hin, ohne nachzu-denken, machen Sie sich keine Sorgen – Sie werden schon einmal ans Ufer gespült und auf die Beine gestellt werden... Es fehlt Ihnen jetzt nur an Luft, an Luft, an Luft!« (S. 589) Zu demselben Motivkreis gehört auch, wenn die Mutter Raskolni-kows erzählt, ihr Sohn habe beim Abschied gesagt, »sie solle ihn nach neun Monaten erwarten« (S. 690), wenn also auf den Geburtsvorgang angespielt wird. Dazu gehören auch die leit-motivisch den Roman durchziehenden Anspielungen auf die Evangeliumsgeschichte von der Auferweckung des Lazarus, zunächst nur in idiomatischen Wendungen, dann in direkter Benennung und schließlich in der berühmten Szene, wo Ras-kolnikow Sonja bittet, ihm diese Geschichte aus dem Johan-nesevangelium vorzulesen. Und wenn am Schluß des Romans Raskolnikow seine Liebe zu Sonja erkennt, wenn ihrer beider »Auferstehung zu einem neuen Leben« bevorsteht, wenn es von ihm heißt, »er konnte seine Gedanken nicht konzentrie-ren, er konnte nur fühlen. An die Stelle der Dialektik war das