Выбрать главу
- 34 -

untergebrannte Stummel einer Unschlittkerze. Wie sich her-ausstellte, wohnte Marmeladow in einem eigenen Raum, nicht in der abgeteilten Ecke, aber dieses Zimmer hier war ein Durchgangsraum. Die Tür zu den übrigen Räumen oder vielmehr Zellen, in die die Wohnung der Amalja Lippe-wechsel aufgeteilt war, stand halb offen. Dahinter ging es lärmend zu, und es ließ sich Geschrei vernehmen. Es wurde gelacht. Es schien, daß man dort Karten spielte und Tee trank. Manchmal klangen die unflätigsten Worte herüber.

Raskolnikow erkannte Katerina Iwanowna sofort. Sie war eine entsetzlich abgemagerte Frau, zart, ziemlich groß und schlank, mit noch sehr schönem dunkelblondem Haar, und wirklich hatte sie rote Flecke auf den Wangen. Sie ging in dem kleinen Zimmer auf und ab, hatte die Hände vor der Brust geballt und die Lippen zusammengepreßt und atmete ungleichmäßig und stoßweise. Ihre Augen funkelten wie im Fieber, aber ihr Blick war schroff und starr, und ihr schwind-süchtiges, erregtes Gesicht machte beim letzten Licht des herabbrennenden Kerzenstummels, das auf diesem Gesicht flackerte, einen krankhaften Eindruck. Raskolnikow hielt sie für etwa dreißig, tatsächlich aber war sie weit jünger als Mar-meladow. Sie hörte die beiden nicht eintreten und bemerkte sie nicht; es schien, als hätte sie alles um sich herum vergessen; sie hörte und sah nichts. Im Zimmer war es schwül, aber sie hatte das Fenster nicht geöffnet. Von der Treppe drang Ge-stank herein, doch war die Tür nicht geschlossen; aus den inneren Räumen zogen durch die halb geöffnete Tür ganze Schwaden von Tabakqualm ins Zimmer; sie hustete, machte aber auch diese Tür nicht zu. Das jüngste Mädchen, ein Kind von ungefähr sechs Jahren, schlief auf dem Boden, halb sit-zend und zusammengekrümmt, den Kopf auf den Diwan ge-preßt. Ein Knabe, ein Jahr älter als sie, stand, am ganzen Leib zitternd, in einer Ecke und weinte. Er war offenbar so-eben geschlagen worden. Das älteste Kind, ein Mädchen von etwa neun Jahren, lang und dünn wie ein Streichholz, stand, nur mit einem dünnen und überall zerrissenen Hemd beklei-det und mit einem alten Wollmäntelchen über den nackten Schultern – es war ihr offenbar vor zwei Jahren gemacht

- 35 -

worden, denn es reichte jetzt nicht einmal mehr bis zu den Knien –, in der Ecke neben dem kleinen Bruder und hielt mit dem langen, spindeldürren Arm seinen Hals umfaßt. Es schien, daß sie ihn beschwichtigte, daß sie ihm etwas zuflü-sterte und ihn auf alle mögliche Weise davon abhielt, neuerlich zu heulen, während ihre großen, großen dunklen Augen gleich-zeitig voll Angst die Mutter beobachteten; und diese Augen wirkten in dem abgemagerten, erschreckten Gesichtchen noch größer. Ohne das Zimmer zu betreten, fiel Marmeladow schon in der Tür auf die Knie und stieß Raskolnikow nach vorn. Die Frau sah den unbekannten Mann und blieb verwirrt vor ihm stehen; einen Augenblick kam sie zu Bewußtsein und schien darüber nachzudenken, weshalb dieser Fremde wohl eingetreten sei. Aber gewiß meinte sie gleich darauf, daß er in die anderen Räume wolle, da dieser Raum ja ein Durch-gangszimmer war. Folglich schenkte sie ihm weiter keine Beachtung, ging zu der Flurtür, um sie zu schließen, und schrie plötzlich auf, als sie auf der Schwelle ihren knienden Mann erblickte.

»Ah!« kreischte sie in blinder Wut, »du bist also zurück-gekommen! Du Sträfling! Du Ungeheuer! ... Und wo ist das Geld? Zeig her, wieviel du in der Tasche hast! Und was ist das für ein Anzug? Wo sind deine Sachen? Wo ist das Geld? Rede! ...«

Sie stürzte sich auf ihn, um seine Taschen zu durchsuchen. Sogleich breitete Marmeladow gehorsam und ergeben beide Arme aus, um die Durchsuchung zu erleichtern. Er besaß keine einzige Kopeke mehr.

»Wo ist das Geld?« schrie sie. »O Gott, hat er wirklich alles vertrunken? Es waren doch noch zwölf Rubel in der Truhe! ...« Und plötzlich packte sie ihn in rasender Wut am Haar und schleifte ihn ins Zimmer. Marmeladow selbst machte ihr die Arbeit leichter, indem er ihr demütig auf den Knien nachkroch.

»Das ist für mich ein Genuß! Das bereitet mir nicht Schmerz, sondern Genuß, geehrter Herr«, rief er, während er am Haar gezerrt wurde und sogar einmal mit der Stirn gegen den Boden schlug. Das Kind, das auf dem Fußboden

- 36 -

geschlafen hatte, erwachte und fing zu weinen an. Der Knabe in der Ecke ertrug es nicht mehr, begann zu zittern, schrie auf und stürzte in furchtbarem Entsetzen, fast in einer Art Anfall, zu seiner Schwester. Die älteste Tochter zitterte vor Schlaftrunkenheit wie Espenlaub.

»Vertrunken hat er es! Alles vertrunken, alles!« rief die unglückliche Frau verzweifelt. »Und er trägt auch andere Kleider! Sie aber hungern, sie hungern!« Und sie wies hän-deringend auf die Kinder. »Oh, dieses verfluchte Leben! Und Sie, schämen Sie sich nicht?« fuhr sie plötzlich auf Raskolni-kow los. »Sie da aus der Kneipe! Hast du dort mit ihm ge-soffen? Bestimmt hast du mit ihm gesoffen! Hinaus!«

Der junge Mann ergriff hastig, und ohne ein Wort zu sa-gen, die Flucht. In diesem Augenblick wurde die innere Tür weit geöffnet, und einige Neugierige blickten herein. Freche, lachende Gesichter erschienen, mit Zigaretten und Pfeifen im Mund und Mützen auf dem Kopf. Man sah Ge-stalten im Schlafrock, völlig aufgeknöpft, in geradezu unan-ständig leichter Bekleidung. Manche hatten Spielkarten in der Hand. Besonders laut lachten sie, als Marmeladow, am Haar gezogen, ausrief, daß ihm das Genuß bereite. Sie kamen sogar ins Zimmer; schließlich hörte man ein unheilverkündendes Kreischen – Amalja Lippewechsel persönlich drängte sich durch die Menge, um Ordnung zu schaffen und die arme Frau zum hundertstenmal durch Schimpfworte und durch den Befehl zu ängstigen, daß morgen schon die Wohnung zu räumen sei. Im Weggehen konnte Raskolnikow noch in die Tasche greifen, wo er soviel Kupferstücke, wie er fand, zu-sammenraffte – alles Geld, das er in der Schenke auf seinen Rubel herausbekommen hatte –; er legte es unbemerkt auf das Fensterbrett. Als er schon auf der Treppe war, reute es ihn, und er wollte nochmals zurückgehen.

Was soll dieser Unsinn! dachte er. Sie haben ja Sonja, und ich könnte das Geld selbst nötig brauchen. Doch da er fand, daß es unmöglich sei, es zurückzunehmen, ja, daß er es auf keinen Fall zurückgenommen hätte, machte er eine gering-schätzige Handbewegung und ging nach Hause. Sonja braucht Pomaden, dachte er weiter, während er die Straße entlang-

- 37 -

ging, und er lachte höhnisch. Diese Sauberkeit kostet Geld ... Hm! Und vielleicht ist Sonja heute selbst bankrott; sie hat ja das gleiche Risiko zu tragen wie ein Jäger ... oder ein Goldsucher ... Ohne mein Geld säßen morgen bestimmt alle völlig auf dem trocknen ... Ach ja, Sonja! Was für einen Quell haben sie da angebohrt! Und sie machen ihn sich zu-nutze! Oh, sie nutzen sie aus! Und haben sich daran gewöhnt. Sie haben geweint und sich daran gewöhnt. An alles kann sich der Mensch, dieses Schwein, gewöhnen!

Er dachte nach.

»Aber wenn ich unrecht habe«, rief er plötzlich unwillkür-lich, »wenn der Mensch, das heißt das ganze Menschenge-schlecht, das ganze, wirklich nicht schweinisch ist, so ist alles übrige nur ein Vorurteil, nur angelernte Angst. Es gibt keine Schranken, und es muß so sein!...«

3

Am nächsten Tag erwachte er spät, nach einem unruhigen Schlaf, der ihn nicht gestärkt hatte. Er erwachte gallig, reiz-bar und böse und betrachtete voll Haß sein Zimmer. Das war eine winzig kleine Zelle von etwa sechs Schritt Länge und sah mit den gelblichen, staubigen, überall von der Wand gerissenen Tapeten überaus kläglich aus; es war so niedrig, daß ein großer Mensch hier beinahe hätte Angst bekommen und glauben können, er werde jeden Augenblick mit dem Kopf an die Decke stoßen. Die Einrichtung entsprach dem Raum: es standen drei alte Stühle darin, schon ziemlich wack-lig, ein gestrichener Tisch in der Ecke, auf dem einige Hefte und Bücher lagen – schon allein daran, wie verstaubt sie waren, ließ sich erkennen, daß sie seit langer Zeit keine Hand mehr angerührt hatte –, und schließlich ein großer plumper Diwan, der fast die ganze Wand und die Hälfte der Zim-merbreite einnahm. Einst war er mit Kattun überzogen ge-wesen, jetzt aber war er zerrissen und diente Raskolnikow als Bett. Oft schlief er hier, so wie er war, unausgekleidet, ohne Bettzeug, mit seinem alten schäbigen Studentenmantel