Nein, er durfte sich in dieser entscheidenden Phase nicht durch Zweifel schwächen lassen. Der Vater hatte recht! Die Kings waren etwas Besonderes, das die zugeheiratete Frau nicht verstehen konnte. Wie Jesus hatte David King keine Frau und keine Kinder. Seine Apostel waren die Soldaten, mit denen er das darbende Land in dunkler Zeit zur Blüte führen würde.
Er hatte dem Colonel viel zu verdanken, eigentlich alles, überlegte der Mann, den der Colonel Private Samma nannte. Erst der Colonel hatte aus ihm einen Mann gemacht. Aus einem verzärtelten Jungen, der viel mehr von seiner Mutter hatte als von seinem tüchtigen Vater. Ein kleines Mädchen in der Gestalt eines Jungen. Nun deckte sich sein Aussehen mit seinem innersten Wesen, bis auf die Träume. Ein Grund, warum er ungern schlief. In den Träumen lebte das Verweichlichte in ihm weiter, so sehr er auch dagegen ankämpfte.
Aber auch das würde er schaffen, eines Tages, gemeinsam mit dem Colonel und den Kameraden.
IRENE ADLER
Mittwoch, der 14. April 1915, begann stürmisch. Die Gischt des Ozeans wurde bis zum Promenadendeck geschleudert, und das war immerhin 160 Fuß hoch. Sherlock Holmes hatte nach dem Frühstück Mrs. Harrison und ihren Mann gebeten, sich am Vormittag um Christine Reynolds zu kümmern. Er müsse mit der Mutter ein Gespräch führen.
»Sie kann uns ins Schwimmbad begleiten«, sagte Mrs. Harrison.
Als Miss Reynolds protestieren wollte, nahm Holmes sie zur Seite und redete auf sie ein. Die Schauspielerin nickte mehrmals, dann verließ sie den Speisesaal an seiner Seite. Gemeinsam betraten sie ihre Kabine.
»Sind Sie bereit, das Collier von Mrs. Oldman-Smythe freiwillig herauszugeben, oder ist es nötig, Aufsehen zu erregen und den Kapitän beizuziehen? Nicht auszuschließen ist eine Befragung durch die New Yorker Polizei, inwiefern Sie Schuld am Tod der Malerin tragen.«
»Ich habe nichts mit dem Verschwinden von Mrs. Smythe zu tun. Und ich habe ihre Kette natürlich nicht in meinem Besitz.«
»Gut, dann lassen Sie mich entweder danach suchen, oder ich alarmiere den Kapitän.«
»Sie können danach suchen.«
Holmes begab sich sofort in das Badezimmer der Schauspielerin, wo er sich kurz umsah und dann einen Behälter öffnete, in dem sich Creme zum Abschminken befand. Mit einer Schere, die er in der weißen Paste bewegte, sondierte er den Behälter und zog tatsächlich das Collier mit dem wertvollen schwarzen Diamanten hervor. Er legte das Schmuckstück in das Waschbecken, nahm ein Stück Seife und ließ Wasser darüber laufen, dann trocknete er es mit dem Handtuch.
»Ich weiß nichts davon«, beteuerte die Schauspielerin. »Jemand muss mir das Ding in die Kabine geschmuggelt haben.«
»Wie Sie wollen, Miss Reynolds. In welcher Kabine der dritten Klasse wohnt Ihr Schauspielerkollege, mit dem Sie gemeinsam am Candler Theater arbeiten werden?«
»Er hat nichts damit zu tun.«
»Warum sind Sie sich dessen so sicher?«
»Weil … weil …«
»Weil Sie genau wissen, wer für den Diebstahl verantwortlich ist«, stellte Sherlock Holmes fest. »Ich schlage vor, Sie erzählen mir, was Sie dazu bewog, die Kette zu entwenden. Wenn Sie mich überzeugen, dass Sie mit der Ermordung der Malerin nichts zu tun haben, werde ich darauf verzichten, Sie bloßzustellen.«
»Das ließe sich wirklich machen? Ich meine, die Angelegenheit diskret zu behandeln?«
Holmes nickte. »Nur zu, Miss Reynolds!«
»Wie kamen Sie im Übrigen auf mich? Ich denke, dass ich so geschickt vorging, dass niemand …«
»Ich hatte einen Verdacht. Ihre Tochter Christine erwähnte unlängst Kabine 23-C. Sie hatte offenbar den Auftrag, herauszufinden, wo Mrs. Oldman-Smythe logierte. Als ich eine Bemerkung zum Diebstahl des Colliers machte, verriet mir die Reaktion von Christine, dass Sie darin verwickelt sind.«
»Christine weiß nichts davon. Ich bin doch nicht verrückt, mein Mädchen in die Sache hineinzuziehen.«
»Kinder ahnen und wissen mehr, als uns Erwachsenen lieb ist.«
»Mein Gott, worauf habe ich mich da eingelassen! Als diese eitle, hohle Person ständig damit prahlte und dann noch die dumme Geschichte erzählte, dass der Fluch der Titanic den Diamanten verfärbt habe, wuchs mein Wunsch, ihr das Collier abzujagen. Wer weiß, auf welche Weise sie es erworben hat.«
»Es wäre tatsächlich interessant, dies in Erfahrung zu bringen«, bemerkte Sherlock Holmes. »Besaß sie es schon auf der Reise mit der Titanic?«
»Nein, das wäre mir aufgefallen. Ich habe ein Auge für so etwas.«
»Die Kette nehme ich an mich. Ich werde Sie damit nicht in Verbindung bringen.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Holmes.«
»Wobei ich zu bedenken gebe, dass Ihnen eine Anzeige viel Publicity bringen würde. Die amerikanische Presse würde Sie bei unserer Ankunft in New York mit großem Interesse empfangen.«
»Darauf verzichte ich. Auch mit Rücksicht auf meine Tochter. Eine Frage noch, Mr. Holmes. Wie konnten Sie wissen, dass ich das Collier in meinem Schminktiegel aufbewahre?«
»Ich versetze mich beim Lösen von Problemen gerne in die Gedankenwelt der Täter, deren Spur ich verfolge. In Ihrem Fall dachte ich: Wo wird eine Schauspielerin eine Schmuckkette verstecken? In ihrer Kleidung, im Futter eines Mantels? Kaum. Sie wird das Nähen nicht in der nötigen Perfektion beherrschen.«
»Schauspielerin – Schminke. Das war Ihre Überlegung.«
»Ja. Und ein Behälter, der groß genug sein musste.«
»Sie wären ein perfekter Dieb und Mörder geworden.«
»Sicher. Wenn ich mich nicht anders entschieden hätte. Im Leben der meisten Menschen gibt es die Möglichkeit, sich zu entscheiden.«
Die eigenen Worte lösten in Holmes plötzlich eine Flut von Gedanken aus und er eilte zurück zu seiner Suite. Mit einem schwarzen Etui in seiner Jacketttasche begab er sich anschließend zur Kabine von Doktor Watson.
»Watson. Ich brauche in den nächsten Stunden Ruhe, absolute Ruhe. Und die finde ich in Ihren Räumen. Es ist wichtig, dass Sie sich in meiner Suite um Ismay und Conolly kümmern. Die beiden dürfen die Räumlichkeiten bis ich wiederkomme nicht verlassen. Beschäftigen oder betäuben Sie sie. Und wenn das nicht hilft, erschießen Sie sie.«
»Was ist los, Holmes? Sie sind völlig außer sich. Was ist geschehen?«
»Ich sehe eine zweite Chance in einem alten Fall. Ich muss einen klaren Kopf bewahren.«
»Und das wollen Sie damit erreichen?«, fragte Watson, vorwurfsvoll auf das schwarze Etui zeigend, das aus Holmes' Tasche hervorlugte.
»In Ausnahmefällen hilft sie, die weiße Göttin«, antwortete Holmes.
Kopfschüttelnd entfernte sich der Doktor und Holmes betrat dessen Kabine. Hastig öffnete er den Behälter und entnahm ihm ein braunes Fläschchen, das eine milchig-weiße Flüssigkeit enthielt. Durch die Kanüle der Glasspritze sog Holmes 0,5 ml Kokain in den Hohlraum, dann stach er die Nadel in die Beuge seines linken Armes und injizierte sich die Droge. Innerhalb von Sekunden fühlte er, wie heißes Blut bis in die letzten Äderchen seines Körpers strömte und ihn mit pulsierendem Leben und Sauerstoff erfüllte.