Joseph Bruce Ismay, der britische Eigentümer der White Star Line, wandte sich mit folgenden Sätzen an die Anwesenden: »Ich dachte viel über das Unglück nach und meinen Anteil daran. Mir fällt dabei immer wieder eine Stelle aus dem Alten Testament ein. Die Bibelstelle, die den Bau der Arche durch Noah beschreibt. Jenes Schiff aus Holz war, der Bibel zufolge, 300 Ellen lang, 50 Ellen breit und 30 Ellen hoch. Die Arche Noah hatte eine ähnliche Wasserverdrängung wie dieses Schiff oder wie sie die Titanic hatte. Die Arche war ein Schiff, das Leben ermöglichte, Tieren und Menschen das Überleben sicherte. Die Titanic war das nicht. Die Titanic brachte hundertfachen Tod. Warum?«
Mit dieser Frage beendete der Reedereibesitzer seine Ansprache, und der Geistliche öffnete ein schwarzes Buch mit einem goldenen Kreuz auf dem Einband und begann mit kräftiger Stimme zu lesen: »Da aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis auf das Vieh und bis auf das Gewürm und bis auf die Vögel unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe. Aber Noah fand Gnade vor dem Herrn. [ … ] Da sprach der Herr zu ihm: Alles Fleisches Ende ist vor mich gekommen; denn die Erde ist voll Frevels von ihnen; und siehe da, ich will sie verderben mit der Erde. Mache dir einen Kasten von Tannenholz und mache Kammern darin und verpiche ihn mit Pech inwendig und auswendig. Und mache ihn also: Dreihundert Ellen sei die Länge, fünfzig Ellen die Weite und dreißig Ellen die Höhe. [ … ] Denn siehe, ich will eine Sintflut mit Wasser kommen lassen auf Erden, zu verderben alles Fleisch, darin ein lebendiger Odem ist, unter dem Himmel. Alles, was auf Erden ist, soll untergehen. Aber mit dir will ich einen Bund aufrichten, und du sollst in den Kasten gehen mit deinen Söhnen, mit deinem Weibe und mit deiner Söhne Weibern. Und du sollst in den Kasten tun allerlei Tiere von allem Fleisch, je ein Paar, Männlein und Weiblein, dass sie lebendig bleiben bei dir.«
»So ist es, Vater. So lautet die Bibelstelle, die mich so beschäftigt, mit der ich nicht zurande komme«, sagte Bruce Ismay. »Warum nur musste die Titanic zu einem Schiff des Todes werden?«
»Sie war«, begann der Geistliche, »nicht nur ein Schiff des Todes. Die Rettungsboote brachten Leben, neues, verändertes Leben für diejenigen, die nicht im eisigen Wasser zu Tode kamen. Eine Taufe für ein neues Leben.«
»Das sehe ich nicht so, Father Riley«, unterbrach ihn Mrs. Hilda Farland. »Ich möchte jeden Gedanken daran entschieden zurückweisen, dass die im Meer Ertrunkenen schlechtere Menschen waren als die Überlebenden. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass dies nicht zutrifft. Mein Enkelsohn Peter und mein Mann waren mindestens so wertvolle Menschen wie ich, wie andere, die sich hier zu dieser Feier eingefunden haben.«
»Das sehe auch ich so, Mrs. Farland«, meldete sich Bruce Ismay erneut zu Wort. »Und doch denke ich, dass Sterben und Überleben Sinn haben und hatten. Nicht auf vordergründige Weise, derzufolge es nur Hell und Dunkel, Gut und Böse gibt, sondern auf einer höheren Ebene. Mein Leben ist seit jenem Tag beinahe unerträglich geworden, aber es hat an Tiefe gewonnen. Ich bin erst in diesen drei Jahren Mensch geworden.«
»Danke, Mr. Ismay. Danke für diese Worte. Genau das trifft auch auf mich zu«, sagte Mrs. Farland und stellte sich demonstrativ an die Seite des Reeders. »Gott ist keine Marionette des beschränkten menschlichen Verstandes. Er ist, sollte er tatsächlich existieren, ein rätselhaftes Wesen, dessen Geheimnis sich uns nicht erschließt.«
Der Geistliche schwieg nach diesen Worten der Witwe. Schließlich wandte sich die junge Braut, Mrs. Linda Morgan-Hornby, an die Gedenkversammlung: »Wir stellten bei der Vorbereitung dieser Feierstunde verschiedene Überlegungen an. Ein Teil davon war die Idee, jeden der Anwesenden, sofern er dazu imstande ist und das auch will, einige Worte sprechen zu lassen. Wichtig ist es, diese Aussagen unkommentiert zu lassen, sie schweigend wirken zu lassen. Und – ich wiederhole – es besteht kein Zwang, etwas zu sagen.« Nach einer kurzen Pause setzte die junge Frau fort: »Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, indem ich über meinen Vater rede. Über John Pierpont Morgan, den amerikanischen Miteigentümer der Schifffahrtslinie, für die die Titanic fuhr. Als seine Tochter fühle ich mich mitbeteiligt an der Tragödie. Vater starb vor zwei Jahren, fast genau ein Jahr nach dem Unglück, das er überlebte, weil er nach der Warnung durch eine Wahrsagerin nicht an Bord des Schiffes gegangen war. So jedenfalls erklärte er sein Fernbleiben von der Jungfernfahrt der Titanic. Sein leidvolles, durch viele Krankheiten überschattetes Leben beendete er in Rom. Er war ein zurückgezogen lebender, scheuer Mensch, nicht zuletzt wegen einer Verunstaltung seines Gesichts. Und doch war er mehr als ein unersättlicher reicher Mann. Er gründete eine Kunstsammlung und eine Bibliothek, die mein Bruder und ich zu seinem Gedächtnis erhalten und ausbauen wollen. So viel über einen für die Titanic wichtigen Menschen. Ich komme nun zu mir. Ich befinde mich auf Hochzeitsreise, nachdem ich Graham Hornby von den Northern Steamships in London geheiratet habe. Auf einer Reise, die mich zurück in die Staaten, zu meiner Mutter und zu meinem Bruder bringen soll und zu ausgedehnten Feiern meiner Vermählung im Kreise meiner eigenen Familie. Die Reise auf diesem Schiff hat mir die Augen geöffnet. Ich weiß, dass ich mit der Heirat einen Fehler begangen habe, den ich keinen Augenblick fortsetzen werde. Ich werde mich, sobald wir New York erreichen, von Graham Hornby trennen. Er liebt mich nicht. Er hat mich aus wirtschaftlichen Gründen geheiratet, und ich bin nicht bereit, dies hinzunehmen.«
»Aber Linda! Das ist doch nicht wahr! Wir müssen darüber reden. Komm doch!«, rief Graham Hornby, dessen Gesicht vor Aufregung und Scham rot geworden war.
»Natürlich werde ich für ein Gespräch zur Verfügung stehen, falls du es nicht vorziehst, deine Nächte mit anderen Frauen in fremden Kabinen zu verbringen.«
»Ich schlage vor, dass wir zur Grundregel unseres Gedenkabends zurückkehren«, unterbrach Sherlock Holmes. »Wie Mrs. Hornby am Beginn ihrer Ausführungen so weise vorschlug: Die Aussagen der einzelnen sollen unkommentiert bleiben. Wir wollen sie schweigend auf uns wirken lassen. Nun zu den Eindrücken, die mich bisher auf dieser Schiffsreise bewegten. So gewaltig und unberechenbar wie das Meer, das scheinbar still und friedlich vor der Titanic lag und wie es sich auch uns soeben präsentiert, so arbeiteten und arbeiten auch die negativen Kräfte, die hinter dem Verderben der Menschen auf der Titanic standen und hinter einigen Ereignissen auf diesem Schiff, über die ich mich momentan nicht äußern möchte. Die negativen Kräfte, als die ich sie bezeichne, wirken schlau und ohne größeres Aufsehen. Und nur der- oder diejenige, die allzu unvorsichtig ist, verliert. Ein Schmuckstück oder gar das Leben. Die Bedrohung für die Übrigen ist schleichender, aber mindestens so effektiv. Mrs. Oldman-Smythe sagte bei der Eröffnung der Ausstellung ihrer bemerkenswerten Gemälde, dass sie sich wünsche, ihre Asche würde dereinst ins Meer gestreut werden. Nun, der Wunsch wurde erfüllt, zwar nicht wortwörtlich, aber dem Sinn nach. Ich denke, dass der Augenblick gekommen ist, der Künstlerin einen Gegenstand folgen zu lassen, der ihr gehörte.«
Holmes zog ein weißes Stoffsäckchen aus dem Jackett seines dunklen Anzugs und warf es über die Reling ins Meer.
Einige der Anwesenden bekreuzigten sich unbewusst.
»Überlebende des Unglücks«, wandte sich Holmes erneut an die versammelten Passagiere der Olympic, »erzählen immer wieder in beeindruckender Weise von der unheimlichen Stille, die beim Untergang der Titanic herrschte. Das Meer war nahezu unbewegt, niemand schrie. Ich ersuche Sie um einen Moment der Stille.«