»Was soll ich tun, alter Freund?« stöhnte er und legte, von seinem Kummer übermannt, den Kopf auf meine Schulter. »Ich ließ ihre Ermordung zu - zwar hätte ich sie nicht verhindern können, doch fünf Minuten später küßte ich über ihrer Leiche ihre Mörderin. Ich bin ein hundsgemeiner Lump, doch kann ich«, hier sank seine Stimme, »dieser grauenhaften Zauberin nicht widerstehen. Ich weiß, morgen werde ich es wieder tun; ich weiß, ich bin ihr auf ewig verfallen; selbst wenn ich sie nie wiedersähe, könnte ich mein Leben lang an niemand anderen denken; ich muß ihr folgen wie eine Nadel dem Magneten; selbst wenn ich könnte, würde ich jetzt nicht fortgehen; ich könnte sie nicht verlassen, meine Beine würden mir den Dienst versagen; doch mein Verstand ist noch immer klar genug, und mit meinem Verstand hasse ich sie - zumindest glaube ich dies. Wie furchtbar ist dies alles! Und dieser - dieser Leichnam! Was soll ich nur davon halten? Dieser Leichnam war wirklich ich! Ich bin ihr Sklave, alter Freund, und sie wird mir meine Seele nehmen!«
Darauf gestand ich ihm, daß ich selbst mich in keiner viel besseren Lage befand; und ich muß es ihm hoch anrechnen, daß er trotz seiner Leidenschaft die Anständigkeit besaß, mich seines Mitgefühls zu versichern. Vielleicht hielt er es für töricht, eifersüchtig zu sein, da er doch wußte, daß er, soweit es die Dame betraf, keinen Grund dazu hatte. Ich schlug ihm vor, einen Fluchtversuch zu unternehmen, doch wir gaben diesen Plan bald als aussichtslos auf, und, um ganz ehrlich zu sein: ich glaube nicht, daß einer von uns es über sich gebracht hätte, Ayesha zu verlassen, selbst wenn irgendeine höhere Macht sich plötzlich erbötig gemacht hätte, uns aus diesen düsteren Höhlen nach Cambridge zu entführen. Wir konnten ihr ebensowenig entrinnen wie eine Motte dem Licht, das sie zerstört. Wir glichen zwei dem Opium Verfallenen: In Momenten, da wir bei klarem Verstand waren, war uns die tödliche Natur unserer Leidenschaft voll bewußt, doch hatten wir nicht die Kraft, uns ihren schrecklichen Wonnen zu entziehen.
Kein Mann, der >Sie< auch nur einmal unverschlei-ert gesehen, den Wohlklang ihrer Stimme gehört und die bittere Weisheit ihrer Worte getrunken, wäre bereit gewesen, auf ihren Anblick zugunsten eines ganzen Meeres ruhiger Freuden zu verzichten. Um wieviel mehr mußte dies - von mir einmal ganz abgesehen - bei Leo der Fall sein, den dieses ungewöhnliche Geschöpf seiner tiefsten Zuneigung versichert und bewiesen hatte, daß diese mehr als zweitausend Jahre angehalten hatte?
Zweifellos war sie eine böse Person, und ohne Zweifel hatte sie Ustane, weil diese ihr im Wege stand, ermordet, doch war dies nicht andererseits ein Zeichen für ihre Treue, und neigt der Mann nicht von Natur aus dazu, einem Weib seine Verbrechen allzu leicht zu verzeihen, besonders wenn das Weib schön ist und die Verbrechen aus Liebe zu ihm begangen hat?
Und überdies: Wann hatte sich je einem Mann eine solche Aussicht geboten wie jene, die jetzt vor Leo lag? Zwar setzte er sein Leben durch eine Vereinigung mit diesem furchtbaren Weib dem Einfluß einer rätselhaften Kreatur mit verruchten Absichten[18] auf, doch das gleiche konnte ihm ja auch in jeder gewöhnlichen Ehe leicht geschehen. Andererseits konnte er durch keine gewöhnliche Ehe solch eine unvergleichliche Schönheit, solch göttliche Hingabe, solche Weisheit, solche Herrschaft über die Geheimnisse der Natur gewinnen, nicht die Macht und den Ruhm, welche ihm diese einbringen würden, und schließlich nicht die königliche Krone ewiglicher Jugend, falls sie ihm diese wirklich geben konnte. Nein, es war durchaus nicht erstaunlich, daß Leo, obgleich bittere Scham und Reue ihn erfüllten, wie es bei jedem Mann von Ehre der Fall gewesen wäre, keinerlei Neigung spürte, seinem ungewöhnlichen Schicksal zu entfliehen.
Meiner Ansicht nach hätte er wahrhaftig toll sein müssen, um dies zu tun. Doch ich muß gestehen, daß mein Urteil über diese Angelegenheit nicht gänzlich objektiv ist. Ich selbst liebe Ayesha bis zum heutigen Tage, und lieber wäre ich nur für eine kurze Woche der Gegenstand ihrer Zuneigung gewesen, als ein ganzes Leben lang der irgendeiner anderen Frau. Und sollte jemand an diesen meinen Worten zweifeln und sie für töricht halten, so darf ich ihm versichern, daß es ihm, hätte Ayesha sich vor ihm entschleiert und ihm all ihre Schönheit gezeigt, ganz genauso ergangen wäre. Natürlich ist hier nur von Männern die Rede. Wir hatten nie Gelegenheit, die Meinung einer Frau über Ayesha zu hören, doch ich halte es durchaus für möglich, daß einer solchen die Königin mißfallen hätte, daß sie ihrer Abneigung mehr oder weniger deutlich Ausdruck verliehen hätte und deshalb von dieser getötet worden wäre.
Zwei Stunden oder noch länger saßen wir mit zerrütteten Nerven und furchtsamem Blick einander gegenüber und sprachen über unsere wunderbaren Erlebnisse. Das Ganze erschien uns eher wie ein Traum oder Märchen und war doch klare, nüchterne Wirklichkeit. Wer hätte geglaubt, daß die Inschrift auf der Tonscherbe nicht allein auf Wahrheit beruhte, sondern daß diese Wahrheit sich uns auf so erstaunliche Art erweisen würde, daß jene, die wir suchten, in den Gräbern von Kor geduldig unserer Ankunft harrte? Wer hätte geglaubt, daß dieses geheimnisvolle Weib in Leos Person den Mann erkennen würde, auf den sie Jahrhunderte um Jahrhunderte gewartet, dessen einstige irdische Hülle sie bis zu jener Nacht aufbewahrt hatte? Und dennoch war es so. Angesichts alles dessen, was wir gesehen hatten, war es uns gewöhnlichen, logisch denkenden Menschen nicht länger möglich, die Wahrheit anzuzweifeln, und so begaben wir uns denn schließlich demütigen Herzens und tief durchdrungen von der Unzulänglichkeit menschli-chen Wissens, das auf anmaßende Weise alles, was es nicht aus Erfahrung kennt, schlichtweg leugnet, zur Ruhe und überließen unser Geschick jener wachenden Vorsehung, der es gefallen hatte, den Schleier menschlicher Unwissenheit vor uns zu lüften und uns zum Guten und Bösen einen Blick auf die Möglichkeiten des Lebens zu gestatten.
22
Job hat eine Vorahnung
Am nächsten Morgen gegen neun Uhr trat Job, immer noch ängstlich und verschreckt dreinblickend, in meine Kammer, um mich zu wecken und zugleich seiner Erleichterung darüber Ausdruck zu verleihen, daß er uns noch lebend in unseren Betten vorfand, was er anscheinend stark bezweifelt hatte. Als ich ihm von dem schrecklichen Ende der armen Ustane berichtete, freute er sich um so mehr, war jedoch zugleich zutiefst entsetzt, obwohl er sich mit ihr nicht gerade gut verstanden hatte. Sie hatte ihn in ihrem verstümmelten Arabisch >Schwein< genannt, und er sie in seinem guten Englisch >Weibsbild<, doch diese Freundlichkeiten waren angesichts ihres Todes von der Hand ihrer Königin vergessen.
»Ich möchte nichts Ungebührliches sagen, Sir«, äußerte Job, als er sich einigermaßen beruhigt hatte, »doch meiner Meinung nach ist diese >Sie< der Beelzebub in Person, oder vielleicht seine Frau, falls er eine hat, was aber wohl so sein muß, denn er allein kann nicht so böse sein. Die Hexe von Endor war harmlos gegen sie, Sir. Dies ist ein Land voller Teufel, Sir, und sie ist der Oberteufel, und es sollte mich sehr wundern, wenn wir je von hier fortkommen. Meiner Seel, ich wüßte wahrhaftig nicht, wie. Ich kann mir nicht vorstellen, daß diese Hexe einen so hübschen jungen Mann wie Mr. Leo ziehen lassen wird.«
18
Nachdem ich einige Monate über diese Bemerkung nachgedacht habe, muß ich gestehn, daß ich von ihrer Richtigkeit nicht mehr ganz überzeugt bin. Zwar beging Ayesha ohne jeden Zweifel einen Mord, doch ich fürchte, daß wir, verfügten wir über die gleiche absolute Macht und ginge es um den gleichen ungeheuren Einsatz, durchaus imstande wären, unter entsprechenden Umständen genauso zu handeln. Außerdem darf man nicht außer acht lassen, daß das System, nach dem sie regierte, für den geringsten Ungehorsam die Todesstrafe vorsah und daß es sich für sie um einen solchen Fall handelte. Sehen wir von dem Mord einmal ab, so bestanden ihre bösen Taten darin, daß sie Ansichten äußerte und Motiven zufolge handelte, welche wohl unseren Moralgesetzen, doch nicht unserer Handlungsweise zuwiderlaufen. Auf den ersten Blick könnte dies als ein Beweis für ihre Verruchtheit erscheinen, doch wenn man das ungeheure Alter dieses Wesens bedenkt, wird es zweifelhaft, ob es sich nicht nur um die Folge einer außerordentlichen Beobachtungsgabe handelte. Es ist eine wohlbekannte Tatsache, daß mit zunehmendem Alter unser Zynismus immer mehr wächst; ja viele von uns werden nur durch einen rechtzeitigen Tod vor gänzlicher moralischer Korruption bewahrt. Niemand wird leugnen, daß ein junger Mensch im allgemeinen besser ist als ein alter, denn er verfügt nicht über jene Lebenserfahrung, die nahezu unweigerlich zu Zynismus und Boshaftigkeit führt. Nun war der älteste Mensch auf Erden im Vergleich zu Ayesha ein kleines Kind, und der weiseste Mensch auf Erden verfügte nicht über ein Drittel ihrer Weisheit. Die Frucht ihrer Weisheit aber war, daß es nur eines gibt, für das zu leben sich lohnt - die Liebe in ihrem höchsten Sinn, und um sie zu erlangen, schreckte sie vor nichts zurück. Dies ist in Wahrheit das Motiv ihrer Übeltaten, und wie man über sie auch denken mag, so darf man andererseits nicht Vergessen, daß sie auch einige Tugenden in einem bei beiden Geschlechtern höchst ungewöhnlichen Maß entwickelt hatte - Beständigkeit, zum Beispiel. -