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»Seid ihr bereit für das große Wagnis?« fragte sie.

»Ja«, erwiderte ich, »obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht recht daran glaube, Ayesha.«

»Ach, mein Holly«, sagte sie, »du bist wahrhaftig nur allzu geneigt, das Unbekannte als unmöglich zu betrachten. Doch du wirst sehen - wenn mein Spiegel dort nicht lügt«, und sie deutete auf das Becken mit dem kristallklaren Wasser, »so ist der Weg noch genauso wie damals. Und nun laßt uns aufbrechen zu jenem neuen Leben. Wer weiß, wohin es uns führen wird?«

»Ja«, wiederholte ich, »wer weiß?«, und wir durchquerten die große Haupthöhle und traten hinaus ins Freie. Vor dem Eingang der Höhle erwarteten uns eine Sänfte und sechs stumme Träger, und zu meiner Erleichterung erblickte ich bei ihnen unseren alten Freund Billali, zu dem ich eine gewisse Neigung gefaßt hatte. Aus Gründen, die näher zu erläutern ich nicht für nötig halte, wünschte Ayesha, daß wir alle -ausgenommen sie selbst - zu Fuß gingen, und dies war uns nach unserem langen Aufenthalt in der Höhle ganz recht, denn mochten diese als Aufbewahrungsort für Sarkophage auch sehr geeignet sein, für atmende Sterbliche wie uns stellten sie doch überaus bedrückende Behausungen dar. Zufällig oder infolge Ayeshas Anordnungen befanden sich auf dem Platz vor der Höhle, wo wir Zeugen des schrecklichen Tanzes gewesen waren, keine Zuschauer. Nicht eine Seele war zu sehen, woraus ich schloß, daß niemand von unserer Abreise wußte, außer vielleicht ihren stummen Bedienten, die es natürlich gewohnt waren, alles, was sie sahen, für sich zu behalten.

Nach wenigen Minuten schritten wir flott über die große bebaute Ebene, die wie ein riesiger Smaragd inmitten der sie umgebenden düsteren Felsen lag, und wiederum staunten wir über den merkwürdigen Ort, den das alte Volk von Kor für seine Hauptstadt auserwählt hatte, sowie über das wunderbare Maß an Arbeit, Erfindungsgeist und technischer Begabung, das die Gründer der Stadt aufgewandt haben mußten, um eine so große Wasserfläche trockenzulegen und in der Folge vor Überschwemmungen zu bewahren. Es ist in der Tat, soweit ich dies beurteilen kann, ein unvergleichlicher Beweis für die Fähigkeit des Menschen, die Natur zu zähmen, denn meiner Meinung nach können sich selbst der Suezkanal oder der Mont-Cenis-Tunnel mit dieser uralten Anlage, was Größe und Großartigkeit der Konzeption betrifft, nicht messen.

Nachdem wir etwa eine halbe Stunde marschiert waren und die erfrischende Kühle genossen hatten, die sich wie immer um diese Tageszeit auf die Ebene von Kor herabsenkte, tauchten die Ruinen der großen Stadt auf, von denen Billali uns erzählt hatte. Schon von weitem sahen wir, wie prächtig diese Ruinen waren. Die Stadt war im Vergleich zu Theben, Babylon oder anderen Städten des fernen Altertums nicht sehr groß; ihre Außenmauer mochte etwa eine Fläche von zwölf Quadratmeilen oder ein wenig mehr umschließen. Auch schienen die Mauern, soviel wir, als wir sie erreichten, erkennen konnten, nicht sehr hoch gewesen zu sein, vermutlich nicht mehr als vierzig Fuß, denn diese Höhe hatten sie auch jetzt noch an Stellen, wo sie nicht in den Boden gesunken oder aus irgendeinem Grunde eingestürzt waren. Wahrscheinlich lag dies daran, daß das Volk von Kor, gegen Angriffe von außen geschützt durch viel stärkere Festungswälle, als Menschenhand sie je errichten konnte, diese Mauern nur zur Schau und vielleicht zum Schutz vor inneren Unruhen gebaut hatte. Dafür waren sie jedoch ebenso breit wie hoch und bestanden zur Gänze aus behauenen Steinen, die ohne Zweifel aus den Höhlen stammten. Umgeben waren sie von einem großen, etwa sechzig Fuß breiten Graben, der an manchen Stellen immer noch mit Wasser gefüllt war. Ungefähr zehn Minuten vor Sonnenuntergang erreichten wir diesen Graben, stiegen in ihn hinab, durchquerten ihn, über die Trümmer einer alten Brücke kletternd, und erklommen mit einiger Mühe auf seiner anderen Seite die Mauer. Ich wünschte, ich besäße die Fähigkeit, von der Großartigkeit des sich uns bietenden Anblicks auch nur eine leise Vorstellung zu vermitteln. Vor uns erstreckten sich, in die rote Glut der untergehenden Sonne getaucht, Meilen und Meilen von Ruinen - Säulen, Tempel, Altäre und königliche Paläste, unterbrochen hier und dort von grünem Buschwerk. Die Dächer dieser Bauten waren natürlich längst eingestürzt und verschwunden, die meisten der Zwischenmauern und hohen Säulen dank der Härte und Dauerhaftigkeit des verwendeten Felsgesteins jedoch noch erhalten.[20]

Unmittelbar vor uns lag eine Straße, die offenbar einst die Hauptverkehrsader der Stadt gewesen war, denn sie war sehr breit und regelmäßig angelegt. Sie bestand, wie wir bald darauf entdeckten, gleich den Mauern aus behauenen Steinblöcken, zwischen denen nur wenig Gras und Strauchwerk wuchs, da es ihm an dem zum Gedeihen notwendigen Erdreich mangelte. Die einstigen Parks und Gärten hingegen bildeten ein undurchdringliches Dickicht. Man konnte deshalb selbst aus einiger Entfernung an dem verdorrten, spärlichen Gras deutlich den Lauf der verschiedenen Straßen erkennen. Zu beiden Seiten dieser breiten Durchfahrtstraße ragten riesige Blöcke von Ruinen auf, deren jeder vom nächsten durch eine freie Fläche getrennt war; vermutlich hatten sich dort einst Gärten befunden, jetzt wucherte nur dichtes,

verfilztes Buschwerk. Sie bestanden durchwegs aus dem gleichen farbigen Gestein, und vor den meisten erhoben sich hohe Säulen, soweit wir dies bei dem schwindenden Licht erkennen konnten, als wir die Hauptstraße, die sicherlich seit Jahrtausenden keines Menschen Fuß betreten hatte, rasch durchschritten.[21] Bald stießen wir auf ein riesiges Gebäude, in dem wir einen Tempel erkannten, der mindestens eine Fläche von acht Morgen bedeckte und aus einer Reihe von Höfen bestand, welche, gleich den chinesischen Bauten, so angelegt waren, daß jeder jeweils einen kleineren umschloß, einer vom anderen getrennt durch Reihen hoher Säulen. Diese Säulen waren von überaus merkwürdiger Form, die keiner mir bekannten ähnelte, und zwar waren sie in der Mitte dünn und schwollen nach oben und unten an. Zuerst vermuteten wir, diese Form sei ein Symbol der weiblichen Gestalt, wie es die Tempelbaumeister vieler Religionen des Altertums zu verwenden pflegten. Als wir am nächsten Tag den Berg hinaufstiegen, entdeckten wir jedoch eine große Zahl stattlicher Palmen, deren Stämme ebendiese Form hatten, und ich bin überzeugt, daß der erste Erbauer dieser Säulen durch die anmutige Gestalt jener Palmen oder besser ihrer Ahnen, welche schon damals, vor acht- oder zehntausend Jahren, die einst die Ufer des vulkanischen Sees bildenden Berghänge schmückten, inspiriert wurde.

Vor der Vorderfront dieses riesigen Tempels, den ich für fast ebenso groß wie den von Karnak bei Theben halte und dessen größte Säulen am unteren Ende achtzehn bis zwanzig Fuß im Durchmesser stark und etwa siebzig Fuß hoch waren, machte unser kleiner Zug halt, und Ayesha stieg aus ihrer Sänfte.

»Hier gab es einstmals ein Gemach, Kallikrates«, sagte sie zu Leo, der hinzugeeilt war, um ihr zu helfen, »in dem man schlafen konnte. Vor zweitausend Jahren ruhten du und ich und diese ägyptische Natter darin, doch seither habe ich meinen Fuß nicht hierher gesetzt, und auch kein anderer Mensch. Vielleicht ist es eingestürzt.« Und gefolgt von uns, stieg sie eine breite, stark verfallene Treppe zum äußeren Hof hinauf und blickte im Halbdunkel um sich. Plötzlich schien sie sich zu erinnern und blieb nach einigen Schritten nach links stehen.

»Hier ist es«, sagte sie und winkte die zwei mit unserem Proviant und Gepäck beladenen Stummen heran. Der eine trat vor und entzündete eine Lampe an der Feuerpfanne, welche die Amahagger auf Reisen mit sich zu führen pflegen. Der Brennstoff darin besteht aus sorgfältig angefeuchteten Mumienbrocken, welche, wenn sie die richtige Feuchtigkeit haben, stundenlang glimmen.[22] Sobald die Lampe brannte, traten wir in das Gemach, vor dem Ayesha stehengeblieben war. Es war eine in der massiven Mauer befindliche Kammer, die vermutlich, wie ich aus dem noch darin stehenden steinernen Tisch schloß, einem der Torwächter des großen Tempels als Wohnraum gedient hatte.

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20

Daß diese Ruinen nach so ungeheuer langer Zeit - mindestens sechstausend Jahren - noch so ungewöhnlich gut erhalten waren, lag vielleicht daran, daß Kor nicht durch einen Feind niedergebrannt oder durch ein Erdbeben zerstört, sondern infolge einer furchtbaren Seuche von seinen Bewohnern verlassen wurde. Deshalb blieben die Gebäude unversehrt. Überdies ist das Klima schön und trocken, und es gibt nur selten Regen oder Sturm. So hatten diese Ruinen nur dem Zahn der Zeit zu trotzen, der sein Werk bei so massiven Bauten nur sehr langsam tut. - L. H. H.

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21

Wie Billali mir erzählte, glauben die Amahagger, daß die Stadt von bösen Geistern bewohnt sei, und sind deshalb durch nichts zu bewegen, sie zu betreten. Ich bemerkte deutlich, daß auch er es nur äußerst widerstrebend tat, und wahrscheinlich faßte er den Mut dazu nur deshalb, weil er sich unter dem direkten Schutz Ayeshas wähnte. Leo und mir erschien es sehr merkwürdig, daß ein Volk, dem es nichts ausmachte, inmitten von Toten zu leben, und das diese sogar als Brennmaterial verwendet, eine derartige Scheu davor empfindet, sich den einstigen Wohnstätten dieser Abgeschiedenen zu nähern. Wahrscheinlich handelt es sich um einen der bei Wilden so häufig anzutreffenden Widersprüche. - L. H. H.

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22

In dieser Hinsicht haben wir übrigens keinen Anlaß, uns über die Amahagger zu entrüsten. >Mumie<, eine aus zerstampften alten Ägyptern hergestellte Farbe, wird viel von Malern benutzt; vor allem von solchen, die sich mit der Nachbildung alter Meisterwerke befassen. - Der Herausgeber.